Neubeginn

Die Kinderschuhe der Demokratie

Zum Geleit

"Geschichte schreiben ist eine Art, sich das Vergangene vom Halse zu schaffen" - Dieses Goethe-Wort passt als Motto für die Darstellung von Geschichte in der Lokalzeitung.

Sich das Vergangene vom Halse zu schaffen, bedeutet, die Verbindung zur Gegenwart herzustellen. Unter diesem Aspekt ist auch die Serie „Die Kinderschuhe der Demo­kratie" zu sehen, die im Isar-Loisachboten im Sommer 1996 in 53 Folgen veröffentlicht wurde und nun auf dieser Website komplett "nachgedruckt" wird.

Angefangen hatte die Serie dort, wo ein Jahr zuvor "Ende und Neubeginn" geendet hatte, mit der „Stunde Null" der Demokratie im Landkreis, mit den ersten Kreistagswahlen am 28. April 1946.

Und sie endete mit der Abwahl von Landrat Willy Thieme durch den näch­sten Kreistag zwei Jahre später. Willy Thieme, geboren 1912 in Zürich, gestorben 1979 in Wolfratshausen, ist die Schlüsselfigur der Nachkriegszeit im Landkreis.

Er war von 1946 bis 1948 Landrat,  in den 1950er Jahren Abgeordneter im Bayerischen Landtag und im Bundestag
und kehrte in den 1960er Jahren als Bürgermeister nach Wolfratshausen zurück, bis zu seinem Abschied 1978 - eine eindrucksvolle Karriere.

Thieme schuf die Voraussetzungen dafür, dass - welch eine Zahl - rund 12 000 Flüchtlinge im Landkreis integriert werden konnten. Er bot der amerikanischen Militärregierung bei der Demontage der Rüstungsfabriken die Stirn, und er legte den Grundstein für die heutige Industriestadt Geretsried. Dass solche Verdienste in der Politik nicht zählen, zeigte seine  Abwahl am 12. Juni 1948.

Die Lebensumstände im Landkreis vor 60 Jahren sind für die heutige Generation unvor­stellbar. Trotzdem (oder gerade deshalb) ist es wichtig, möglichst viel über das Leben unserer Eltern und Großeltern zu wissen, allein, damit wir  verstehen, warum sie so sind, wie sie sind.

In die­sem Sinne viel Spaß beim Lesen.

Joachim Braun
Wolfratshausen, im August 2007




Start in die Freiheit

Fremdartige Demokratie

Der 8. Mai 1945 war ein Datum, das 1995 die Bürger überall in der Bundesrepublik bewegt hat. 50 Jahre Kriegsende, 50 Jahre Ende der Nazidiktatur.

Ebenso interessant ist aber die Nachkriegsge­schichte, die Aufbaujahre der Demokratie - je­ner Staatsform, die uns heute selbstverständlich erscheint, die für die Menschen damals etwas Neues, fast Fremdartiges war.

Nur mit Scheu nahmen auch die Bürger im amerikanisch be­setzten Wolfratshausen von der Demokratie Be­sitz. Eindrucksvoll belegen dies etwa die Sit­zungen des Kreistags. Von ihnen wollen wir in den folgenden Kapiteln berichten.

Grundlage der Artikelrei­he sind die Pro­tokolle des Kreistags in der Periode von 1946 bis 1952. Sie sind in der Registratur
des Landratsamts gesammelt worden sind. Wir möchten mit der Serie auch auf die Pionier­arbeit der damaligen Politi­ker aufmerksam machen.

Manche Namen sind heute noch wohlbekannt, der des Landrats Willy Thieme zum Beispiel oder der von Fritz Bauereis aus Weidach, des­sen gleichnamiger Sohn bis 1996 im Stadtrat saß, oder auch der von Karl Fuchs, der 1996 als Mitbegründer der örtlichen CSU besondere Ehren er­fuhr.

Auch Hans Friedrich Graf von Pocci aus Ammer­landist vielen Landkreis­bürgern heute noch ein Be­griff.Martin Eichner aus Lo­chen machte später Karriere als Bundestagsabgeordneter.

Bevor allerdings die De­mokratie eingeführt werden kann, schaffen die Amerika­ner nach ihrem Einmarsch am 29. April 1945 erst einmal Ordnung:

Die alten Nazis, wie Landrat Adolf von Liederscron oder der Wolfratshauser Bürgermeister Hein­rich Jost, werden einge­sperrt, und unverdächtige Männer an ihre Stelle ge­setzt.

Landrat wird Hans Thiemo, vormals Professor in München, Bürgermeister Hans Winibald, der schon von 1924 bis 1933
dieses Amt inne hatte.

Angesichts der Niederlage auf dem Schlachtfeld und der materiellen Not zuhause haben die Bürger mit Politik wenig am Hut, wie Landrat Thiemo in seinen Monatsbe­richten an den Regierungs­präsidenten in München an­schaulich darstellt. Er schreibt unter anderem:

„Das in seiner Bequem­lichkeit eingeengte Spieß­bürgertum äußert lebhafte Unzufriedenheit. Es ist eben unbelehrbar. Auffällig ist die große Arbeitsunlust, beson­ders der jüngeren Genera­tion." (12. September 1945)

„Die Stimmung der Bevöl­kerung ist vom Nullpunkt nicht mehr weit entfernt. Sie ist enttäuscht und verbittert und von einem tiefen Pessimismus durchdrungen. (. . .) Ungeheuer ist der Mangel an Waschmitteln, an Seife  und an den kleinen Dingen des täglichen Gebrauchs, Schuhbänder und ähnli­ches." (24. Oktober 1945)

„Die Stimmung in der Be­völkerung gleicht einem trü­ben Hinbrüten. Man weiß allgemein, dass uns Schlim­mes bevorsteht,
hofft aber persönlich mit einigen Haut­abschürfungen davon zu ­kommen. Höhere Gesichts­punkte spielen im Denken des Volkes keine Rolle." (19. November 1945)




CSU mit klarer Mehrheit

Auch in den darauffolgen­den Monaten ändert sich die Stimmung kaum. Einige vor­ausschauende Bürger haben aber bereits Parteien ge­gründet, die SPD etwa oder auch die CSU. Auch die Kommunisten hoffen, aus der antifaschistischen Stim­mung eine Menge Kapital zu schlagen.

Am 27 Januar 1946 finden die ersten Gemeinderats­wahlen statt, die Wahlbetei­ligung ist für heutige Ver­hältnisse mit 83 Prozent sehr hoch. Die Kräfteverteilung ähnelt  der von heute: In Wolfratshausen schaffen fünf Kandidaten der CSU und vier der SPD den Einzug in die Gemeindevertretung.

Der erste Wolfratshauser Kreistag wird am 28. April 1946 gewählt. 33 Sitze sind zu vergeben - die CSU erhält 17, die SPD sechs und die Wiederaufbauvereinigung einen. Der Rest entfiel auf parteifreie Bewerber.

Im Gegensatz zu heute bestimmte damals der Kreistag den Landrat. SPD-Politiker Willy Thieme, der von den Amerikanern im April an die Stelle des missliebigen Hans Thiemo gesetzt worden war, erhält eine deutliche Mehrheit von 29 Stimmen, zwei entfielen auf Martin Eichner aus Lo­chen, zwei Stimmzettel wa­ren leer abgegeben worden.




CSU für SPD-Mann

Thieme wird erster frei gewählter Landrat

Zu seiner ersten Sitzung nach dem Krieg trifft sich der Kreistag des Landkreises Wolfratshausen am 6. Juni 1946 nicht im Landratsamt (dem heutigen Finanzamt) sondern im Sitzungssaal des Rathauses. Auch der Sitzungsbeginn ist ungewöhnlich: Um 10 Uhr beginnt die konstituierende Sitzung, in der der Kreistag einen Landrat und den Kreisausschuss wählt.

Schützenhilfe bei der vielbeachteten Sitzung - über 100 Zuhörer werden gezählt - leistet die amerikanische Militärregierung, die durch ihren ranghöchsten Offizier, Major Steers, durch Oberleutnant Ott und andere Offizielle vertreten wird.

Wichtigster Tagesordnungspunkt ist die Wahl des Landrats. Sowohl der Fraktionsführer der CSU, der Wolfratshauser Karl Fuchs, wie auch sein SPD-Kollege Fritz Bauereis (Weidach) bitten die Kreistagsmitglieder, ihre Stimme „nach bestem Wissen und Gewissen so abzugeben, wie jeder Einzelne es vor seiner Wählerschaft verantworten kann".

Bauereis schlägt seinen Parteifreund Willy Thieme vor, der schon zwei Monate vorher von den Amerikanern zum kommissarischen Landrat ernannt worden war. Auch der Sprecher der Wiederaufbauvereinigung, Hans-Friedrich Graf von Pocci aus Ammerland, spricht sich für Thieme aus, ebenso der Argeter Bürgermeister Josef Huber von der CSU.

Seine Partei, so der Appell, möge „unter Hintanstellung ihrer parteipolitischen und persönlichen Interessen mitwirken
am Aufbau der Wirtschaft und des schwer darniederliegenden Landkreises".

Wie im Protokoll der Sitzung zu lesen ist, sind die Ansprachen der einzelnen Redner „jeweils von Beifall begleitet". Der kommt auch von der Tribüne, was Sitzungsleiter Thieme dazu veranlasst, die Glocke zu betätigen und jegliche Meinungsäußerungen der Besucher zu unterbinden.

Die Wahl selber verläuft sehr gesittet: Thieme bekommt 29 Stimmen, sein Kontrahent, Martin Eichner aus Lochen, nur zwei Stimmen. Zwei Stimmzettel werden leer abgegeben.

Anschließend wird der siebenköpfige Kreisausschuss gewählt. Die CSU hat - wie heute noch - eine klare Mehrheit. Sie entsendet mit Karl Fuchs, Josef Huber, Alois Schießl (Dietramszell), Alfons Dröscher (Schäftlarn) und dem Wolfratshauser Löwenbräu-Wirt Josef Schwaiger fünf Vertreter. Die SPD bekommt zwei Ausschussmitglieder, neben Fritz Bauereis auch Franz Geiger aus Wolfratshausen. Beide waren schon vor der Nazizeit aktiv und hatten im Dritten Reich unter schweren Repressalien zu leiden.

Um 12.10 Uhr, nach gut zweistündiger Dauer, endet die erste Kreistagssitzung.




Später feierlich

Thieme appelliert an die Kreistagskollegen

„Arbeiten und gemeinsam überlegen, wie die gröbsten Schwierigkeiten beseitigt, wie die dringendsten Sorgen vermindert werden können", unter dieses Motto stellte Landrat Willy Thieme die Arbeit des ersten Wolfratshauser Kreistages.

In der zweiten Sitzung am 26. August 1946 hielt der beredte Mann eine Ansprache an die Kreisräte. Den Eindruck von Feierlichkeit möchte Thieme angesichts der herrschenden Not allerdings vermeiden: „Feierlich können wir später einmal sein, wenn wir die schwierigsten Dinge hinter uns gebracht haben."

Der Akzent der politischen Arbeit müsse auf der Gemeinsamkeit liegen, sein Appell hat auch für die heutige Politik seine  Gültigkeit nicht verloren: „Jeder müsste eine echte Befriedigung darin spüren, die wunden Punkte seiner Gemeinde und seiner Wählerschaft von Grund auf zu kennen, mit dem Nachbarn zu besprechen und hier vor diesem Gremium seine Erfahrungen vorzutragen."

Der Kreistag, so Thieme, sei „eine kleine Regierung". Er müsse diesem Anspruch aber auch gerecht werden. "Ich will das Schlagwort Demokratie vermeiden, weil solche Dinge, die man häufig im Munde führt, meistens in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind. Deshalb meine ich, dass unsere Arbeit hier ein Bild davon geben müsste, wie ein Kreis auf eine vernünftige Art mit seinen eigenen Angelegenheiten fertig wird, wie er in schlechten Zeiten für Arbeit sorgt und seinen Haushalt trotzdem in Ordnung hält."

Darin, so meint der Landrat, würde man sich dann auch „wesentlich von den Nationalsozialisten unterscheiden". Diese hätte dadurch für Arbeit gesorgt, dass sie Kanonen und Unterseeboote bauten und dabei den Staatshaushalt in Unordnung brachten, „wie noch nie in der Geschichte".

Willy Thieme: „Uns selbst regieren, das würde demnach bedeuten, dass wir regelmäßig unsere Köpfe zusammenstecken, um gemeinsam zu überlegen, wie unsere Sachen am besten in Ordnung und über bestehende Schwierigkeiten hinweg zu bringen sind."

Der Landrat appelliert auch an die Kollegen Kreisräte, pfleglich miteinander umzugehen: „Der Ton und die Haltung, mit der wir hier unsere Ansichten austauschen, oder meinetwegen auch unsere gegnerischen Meinungen vortragen, 0wird bestimmend sein für den Erfolg unserer Arbeit."

Der Kreistag sei kein Jahrmarkt, „auf dem ein Löwenbändiger den anderen überschreit", sondern eine Versammlung "von reifen Männern, deren Rechtlichkeit erprobt und deren Unbestechlichkeit nachgewiesen ist."




Höflichkeit als Pflicht

Geschäftsordnung mit guten Vorsätzen

Der Aufbau der Kreisverwaltung ist nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches und der Übernahme der Staatsgewalt durch die Amerikaner eine der vordringlichsten Aufgaben von Landrat Willy Thieme und seinem Kreistag.

Rechtliche Grundlage ist die Geschäftsordnung. Sie wird vom Kreistag in der zweiten Sitzung am 6. Juni 1946  verabschiedet. Manche Vorschriften haben sich bis heute kaum geändert, andere wiederum muten reichlich seltsam an.

Das Landratsamt ist aufgeteilt in Referate, so wie heute auch. Die Referatsleiter dürfen „im Auftrag" nur Dinge unterzeichnen, die „von nicht entscheidender Bedeutung" sind. Alle Kreistagsbeschlüsse, Verfügungen, Bekanntmachungen, Weisungen und Berichte an die Militärregierung werden von Thieme persönlich unterschrieben.

Sämtliche eingehende Post wird vom Landrat gelesen und verteilt, sagt die Geschäftsordnung. Paragraf 7:  „Bearbeitungsvermerke des Amtsvorstandes sind sorgfältig zu beachten." Telefonieren ist nur in Ausnahmefällen möglich und wenn, dann müssen Aktenvermerke geschrieben werden.

Auch Pünktlichkeit wird von den Mitarbeitern erwartet: „Grobe Verstöße bei Einhaltung von Terminen sowohl durch Referenten wie auch durch nachgeordnete Behörden (Bürgermeister usw.) sind dem Behördenleiter zur Meldung zu bringen" (Paragraph 9).

Sorgfalt ist im übrigen alles: „Geordnete Aktenführung ist eine unbedingte Notwendigkeit. Umfangreiche Verhandlungen sind in Umschlägen oder Aktendeckel zu lagern. Berichte von Gemeinden sind innerhalb des Aktes alphabetisch zu  ordnen und zu heften. ( . .) Vor Ablegung der Akten in die Registratur sind die Akten beim Bearbeiter selbst in völlig geordneten Zustand zubringen." (Paragraph 16).

Der Abschnitt III der Geschäftsordnung, der Verkehr mit der Bevölkerung", verdient es, in voller Länge zitiert zu werden. Was heute umständlich über Verwaltungsreform und Steuerungsmodell verwirklicht werden soll, ist dort in etwas komplizierten Worten festgeschrieben:

„Allen Behördenangehörigen wird zur besonderen Pflicht gemacht, den Verkehr mit der Bevölkerung in freundlicher und höflicher Form abzuwickeln, den Antragstellern oder Ratsuchenden mit Geduld und Verständnis entgegen zu kommen, was unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Lage und der bestehenden Bestimmungen, insbesondere unter Beachtung der durch die Militärregierung ergangenen Gesetze und Verordnungen und Weisungen der örtlichen Militärregierung bei vernünftiger Handhabung bewilligt werden kann, zu gewähren und notwendige ablehnende Entscheidungen durch entsprechende Aufklärung der Verständnis der Betroffenen nahe zu bringen."




Sechs Mark Sitzungsgeld

Komplizierte Kreisfinanzen

Die Kreisräte der Nachkriegszeit verstanden ihr Amt noch als wirkliches Ehrenamt: Die Aufwandsentschädigung war mehr als bescheiden. Sie erhielten 3 Reichsmark, wenn eine Sitzung den halben Tag dauert, und 6 Reichsmark für den ganzen Tag. Auch sonst war 1946 Sparsamkeit angesagt.

Das Verwaltungschaos ist auch ein Jahr nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs groß. Obwohl die Beratungen über den Haushalt 1946 erst am 6. August stattfinden soll, sieht sich Landrat Willy Thieme auch zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, einen Plan vorzulegen; was er bedauert:

„Es ist für alle Gemeinden, Kreise sowie für alle öffentlichen Einrichtungen zum Beginn des Rechnungsjahres die  Erstellung von Haushaltsplänen bindend vorgeschrieben. Dies setzt jedoch voraus, dass die Kassenverwaltungen annähernd übersehen können, in welcher Höhe sich die Einnahmen und Ausgaben für das kommende Rechnungsjahr bewegen. Dies ist allerdings derzeit nicht der Fall."

Vor allem die Staatsfinanzen sind nach dem verlorenen Krieg völlig desolat. Dazu kommen, so Thieme, „ungeheure neue Aufgaben", etwa wegen des Flüchtlingsproblems, des Zusammenbruchs der Industrie und auch durch die Besatzungskosten. Der Landrat: „Dieser Zustand muss sich zwangsläufig auch auf die Finanzierung der untergeordneten Stellen auswirken."

Weder hat die Kreisverwaltung im August 1946 eine Ahnung, was der Staat an Schlüsselzuweisungen bezahlt, noch wie hoch die Anteile an Gewerbe- und Bürgersteuer sind. Unbekannt sind auch die Zuschüsse des Staates für Fürsorge - heute spricht man von Sozialhilfe -, für den Straßenbau und auch die Höhe der Bezirksumlage.

Selbst zur Erstellung der Jahresrechnung für 1945 fehlen im darauffolgenden August noch wichtige Posten. Thieme geht allerdings von einem Haushaltsvolumen in Höhe von 2,1 Millionen Reichsmark aus und einem Überschuß von 67 000 Mark. Der größte Posten sind die Fürsorgezahlungen mit 908 000 Mark und das Krankenhaus mit 265 000 Mark.

Die Kreisumlage wurde 1945 mit 39,2 Prozent angesetzt, inzwischen (2007) sind es fast 53 Prozent.


Behörde hat fünf Autos


Hans Friedrich Graf von Pocci aus Ammerland gebührt die Ehre, die erste Anfrage überhaupt an den Kreistag gerichtet zu haben. Am 2. Juli 1946 bittet er den „Vorsitzenden des Kreistages Wolfratshausen, Herrn W. Thieme" um einen Bericht über die Zahl der Kraftfahrzeuge am Landratsamt, „da hier erhebliche Einsparungen getroffen werden können".

Die Antwort auf seine Anfrage erhält Graf Pocci in der Kreistagssitzung einen Monat später: Nach dem detaillierten Bericht des zuständigen Sachgebietsleiters Karl Fuchs verfügt das Landratsamt zum 1. Juli 1946 über sechs Autos und drei Motorräder: Vier Opel, einen Mercedes und einen Peugeot sowie eine DKW, eine Sachs-Motor und eine NSU Quick. Zu Kriegsbeginn 1939 hatten lediglich der Landrat und die Kreissparkasse einen Dienstwagen. Ob nach Poccis Anfrage tatsächlich Autos eingespart wurden, ist leider nicht bekannt.




Das Referat X

Pläne für die Fabrik Wolfratshausen

Zu den vordringlichsten Problemen, die der Landkreis Wolfratshausen nach dem Krieg zu lösen hatte, gehörte die weitere Nutzung der ehemaligen „Fabrik Wolfratshausen". Landrat Willy Thieme gründete für die Verwertung der einstigen Waffenschmiede sehr vorausschauend eine eigene Abteilung, das „Referat X". Dort wurde der Plan eines „Siedlungswerks" entwickelt.

Die ehemaligen Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst - das Gelände der heutigen Stadt Geretsried -  war Problem und Chance zugleich. Landrat Thieme am 26. August 1946 vor dem Kreistag: „Die Notwendigkeit des Siedlungsbaus ist unbestritten, durch den Bedarf an Arbeitskräften in der ,Fabrik Wolfratshausen' und durch den Zuzug von Ausgewiesenen und Flüchtlingen im Landkreis."

Nach Vorstellungen des Landratsamts soll das Siedlungswerk Platz für 6000 Menschen bieten, in 154 Vier- und 328 Einfamilienhäusern, insgesamt 944 Wohnungen. Träger der Maßnahme, über die Kosten hat Thieme 1946 keinen Überblick, soll ein noch zu gründender Verein sein.

„Die Bauausführung erfolgt durch Wolfratshauser Baubetriebe, die, soweit nicht vorhanden, errichtet werden." Der Baubeginn ist für Frühjahr 1947 angesetzt.

Thieme hat außerordentlich früh die Möglichkeiten erkannt, die sich durch die Industrieruine im Süden Wolfratshausens ergeben: „Die Änderung der Wirtschaftsstruktur des Kreises (Industrialisierung) kann nur begrüßt werden, denn sie erfolgt nicht planlos und gewaltsam, sondern wird sinnvoll aus den industriellen Gegebenheiten und Möglichkeiten der vorhandenen Werkahlagen heraus entwickelt. Sie stellt daher für den Kreis keine Belastung, sondern eine Entspannung dar", schreibt der Landrat anläßlich der Kreistagssitzung.

Thieme geht davon aus, dass sich durch die Industrie „das soziale Milieu im Kreis verbessert und der Lebensstandard gehoben" werde. Die Fähigkeiten der im Landkreis ansässigen Flüchtlinge - zu diesem Zeitpunkt rund 8000 - können in neuen Fabriken „ideal zum Einsatz und zur Entfaltung gebracht werden".

Und nicht zuletzt sei die „Fabrik Wolfratshausen" ein „Sicherheitsventil des Landkreises, denn sie kann infolge ihres großen räumlichen und maschinellen Spielraums im Falle einer Arbeitslosigkeit eine Unmasse von Menschen wie ein Schwamm in sich aufnehmen und so den Kreis vor einem wirtschaftlichen und finanziellen Ruin bewahren".

Der Landrat hat die Zeichen der Zeit gut erkannt: Zwar wird das Siedlungswerk nie verwirklicht, aber heute ist Geretsried die größte und wirtschaftlich leistungsfähigste Kommune im Landkreis.




Benzin für die Feuerwehr

Kreistag verwaltet den Mangel

Die Klagen der Kreisräte sind heute dieselben wie vor 50 Jahren. In der Sitzung am 25. November 1946 beschwerten sich
Hans Friedrich Graf von Pocci und Martin Eichner darüber, Sitzungsunterlagen nicht rechtzeitig bekommen zu haben und deshalb über Themen entscheiden zu müssen, die sie nicht genau genug kennen. Die gleiche Klage ist dem heutigen Landrat Manfred Nagler wie auch seinem Vorgänger Dr. Otmar Huber wohl bekannt.

Gleichwohl zeigt sich der Kreistag von 1946 in seiner dritten Sitzung am 25. November als funktionierendes Gremium. Einstimmig beschließt der Kreistag den endlich vorgelegten Haushaltsplan für 1946. Er hat ein Volumen von 2,1 Millionen Mark.

Für die Kreisumlage gilt ein ganz besonderer Schlüssel: Sie wird auf  „12 Reichsmark pro Kopf der Nährmittelbevölkerung in der 89. Zuteilungsperiode" festgesetzt. Es ist Nachkriegszeit, der Bezugsschein regelt die Nahrungsmittelverteilung.

Erstmals nach dem Krieg kann auch wieder an Investitionen,gedacht werden: Für die Einrichtung einer Internen Station des Krankenhauses Wolfratshausen gibt der Landkreis 60 000 Reichsmark aus. Der Posten Röntgengerät und medizinische Einrichtung verschlingt mit 44 000 Mark den Löwenanteil.

Mangels Platz ist sie nicht in der Klinik untergebracht, sondern auf dem Bruckmeier-Hof zwischen Wolfratshausen und Achmühle. Das im Besitz des Marktes Wolfratshausen befindliche Anwesen diente während der Nazizeit als Gauschule  der Deutschen Arbeitsfront (DAF).

Bei der Haushaltsberatung überwiegt - und das hat sich bis heute nicht geändert - die Diskussion über kleine und kleinste Beträge. Alois Reiser aus Münsing etwa regt an, für die Landpolizei einen kleinen Beitrag bereit zu halten, damit ein Polizeihund angeschafft werden kann, und Martin Eichner, Lochen, fordert Sonderzuteilungen von Benzin für die Feuerwehr.

Einen besonderen Raum nimmt die Diskussion über das Flüchtlingsproblem ein: Immerhin sind in der Nachkriegszeit 8000 Menschen in den Landkreis gekommen. So fordert Alois Schießl aus Untermühltal mit Blick auf die kleinen Landgemeinden „eine gerechtere Lenkung des Flüchtlingsstroms", und auch Franz Geiger (Wolfratshausen) beschwert sich darüber, dass wegen der vielen Flüchtlinge kein Raum mehr für die einheimische Bevölkerung frei ist.

Teilweise müssen sich sieben Menschen ein Zimmer teilen. Lösen kann Landrat Thieme diese Probleme nicht. Immerhin gibt er bekannt, dass das Wohnungsamt künftig wieder der Kreisbehörde unterstellt ist und dass dann nur noch so viele Flüchtlinge aufgenommen werden sollen, wie Wohnraum zur Verfügung steht.




DDT gegen Läuse

Berichte zur Lage des Landkreises

Die vierte Kreistagssitzung am 24. Januar 1947 war von besonderer Bedeutung. Alle zehn Referatsleiter im Landratsamt waren aufgefordert, Berichte zur Lage im Landkreis abzugeben: zum Gesundheitswesen ebenso wie zur Finanzsituation, zu den Versorgungsproblemen oder auch zur Wohnungsfrage.

Wie wichtig Landrat Willy Thieme diese Sitzung nimmt, wird aus einer schriftlichen Anweisung an alle Referatsleiter deutlich. Er legt darin nicht nur eine genaue Reihenfolge der Redner fest, zudem verpflichtet er ausdrücklich zur Pünktlichkeit.

Auf drei Stunden sind die Referate angesetzt. „Es ist deshalb notwendig, dass keine Zeit zwischen den Berichten vertan wird." Die Berichterstatter sollen allerdings nicht zu schnell reden: „Jeder von Ihnen muss das Gefühl haben, dass er seine Materie in einem Tempo vorträgt, das den Kreistagsmitgliedern gestattet, dem Bericht gut zu folgen."

Landrat Thieme hat allen Grund, die Sitzung gut vorzubereiten. Die Arbeit seiner Behörde scheint in der Öffentlichkeit nicht unumstritten zu sein. Eingangs der Debatte erzählt er den Kreisräten das altbekannte Gleichnis von Vater und vom Sohn, die sich über der Frage, wer auf dem Esel reitet, völlig entzweien, bis sie schließlich verstehen, es niemals allen recht machen können.

Thieme: „In solcher Lage befindet sich das Landratsamt. Der eine Kritiker möchte manche Dinge so erledigt sehen, der zweite wieder anders." Einziger Lösungsweg für den Landrat: „Heraus aus dem Chaos - hin zu Friede, Ordnung und Aufbau".

Alle drei Schlagworte sind 1946 und danach äußerst beliebt. Thieme weiter: „Es liegen arbeitsreiche Monate hinter uns, in denen wir oft kleinliche Kritik über uns ergehen lassen mussten; Kritik, die vielfach ungerechtfertigt war, weil sie aus dem langen Filmstreifen der Handlung meist ein Momentbild herausschnitt, das nur im Rahmen des ganzen Vorganges richtig beurteilt werden konnte."

Darum der Appell an die Kreisräte: „Halten Sie mit dem Tadel nicht zurück, wenn er Ihnen begründet erscheint, spenden Sie unserem Landratsamt aber auch Lob, wo Sie Erfolge anerkennen."

Dann bekommen die  Fachleute das Wort.



Krankheiten breiten sich aus

Windpocken, Ungezieferbefall, alle möglichen Geschlechtskrankheiten - die wenigen Ärzte im Landkreis Wolfratshausen hatten 1945 und 1946 viel Arbeit. Die Widerstandskräfte der Bürger waren infolge der katastrophalen Ernährungslage sehr geschwächt. Medikamente waren ebenfalls Mangelware. Amtsarzt Dr. Platiel erstattet dem Kreistag ausführlich Bericht.

Immerhin, so Platiel, „sind keine Epidemien aufgetreten". Im Herbst 1946 registriert das Gesundheitsamt Wolfratshausen neun Fälle von Typhus, eine Weiterverbreitung der lebensgefährlichen Infektionskrankheit kann indes vermieden werden.

Zur gleichen Zeit breiten sich in mehreren Gemeinden Windpocken, Masern, Mumps und Keuchhusten so stark aus, dass Schulen geschlossen werden. Platiel weiter: „Die Zahl der Geschlechtskrankheiten hat nicht wesentlich zugenommen. Die ansteckungsfähigen Personen müssen sich in Spezialkrankenhäusern behandeln lassen."

Beträchtliche Probleme bereitet allerdings die stark angestiegene Zahl von Eiterungen, die nur sehr schwer abheilen. Eine Ursache dafür ist neben den geringen Lebensmittel-Zuteilungen die beengte Wohnsituation und die daraus  resultierenden hygienischen Notstände, die durch einen Mangel an Waschmitteln noch verstärkt werden.

Die Krätze breitet sich im Landkreis aus, und auch Läuse sind eine allgegenwärtige Plage. Sie werden, laut Platiel, übrigens mit DDT-Pulver „gut bekämpft". Das Pflanzenschutzmittel DDT ist krebserregend und erbgutschädigend - davon aber war in den 40er Jahren nichts bekannt.

Schwierigkeiten bereitet auch der Mangel an Benzin. Das Rote Kreuz kann nur die dringenden Krankentransporte erledigen. Auch die niedergelassenen Ärzte beklagen zu geringe Benzin-Zuteilungen. Das Gesundheitsamt versucht mit Impfungen gegen Pocken, Diphterie und Typhus die Infektionskrankheiten einzudämmen. Auch gegen die Vitaminmangel-Krankheit Rachitis geht man vor.

Allerdings, so beklagt Platiel, werde von vielen Bürgern die Bedeutung der Schutzimpfung nicht anerkannt. Gerade bei der Diphterie lässt sich die Wirksamkeit nachweisen: 43 Erkrankungen werden registriert, darunter sind lediglich noch drei Todesfälle.

Die starke Flüchtlingszustrom - bis Januar 1947 etwa 9500 Menschen - wirkt sich auch auf die sanitären Verhältnisse aus, vor allem in den Lagern. Zwar ist die Qualität des Trinkwasser durchwegs einwandfrei, aber die Abwasserbeseitigung ist den Anforderungen überhaupt nicht gewachsen.

Platiel: „Im Lager Buchberg war bei der sehr kalten Witterung im Dezember das Wohnen besonders für Kinder absolut gesundheitsschädlich."

Die Säuglingssterblichkeit ist hoch. Auch die Tuberkulose ist auf dem Vormarsch. Das Gesundheitsamt hält eigene Lungen-Sprechtage ab. Die Unterernährung der Schulkinder bezeichnet Platiel als „beträchtlich". Nur in Wolfratshausen, wo es Schulspeisung gibt, ist die Situation günstiger.



Flüchtlinge in der Schule

Die Wohnungsnot macht 1945/46 auch vor den Schulen nicht halt. Alle öffentlichen Gebäude mussten mit Flüchtlingen besetzt werden, da es nicht ausreichend privaten Wohnraum gab. Wie schwierig die Situation war, legte Bezirksschulrat Sponsel in der Sitzung vom 24. Januar 1947 vor dem Kreistag dar.

Das Flüchtlingsproblem trifft die Lehrkräfte gleich doppelt. Zum einen werden Klasenzimmer als Unterkünfte genutzt, zum anderen steigt die Zahl der Schüler. Zu Sponsels Amtsantritt im April 1946 zählte der Kreis Wolfratshausen 4234 Schulkinder und 62 Lehrer, am Jahresende sind es schon 5182 Schüler und 90 Lehrkräfte.

Der Unterricht findet in 31 Schulen statt. Für die 90 Klassen stehen allerdings nur 63 Schulräume zur Verfügung, so dass 27 Klassenzimmer doppelt belegt sind, ergo 54 Klassen „keinen voll ausgebauten Unterricht erhalten" (Sponsel).

Vordringliche Aufgabe der Schulbehörde ist darum, neue Schulräume zu beschaffen. Angesichts der Raumnot wird sogar erwogen, in Wirtshäuser auszuweichen. Der Schulrat: „Eine solche Lösung kann aber nur als Zwischenlösung angesehen werden, da sie meist mit Unzuträglichkeiten verbunden ist."

Noch dazu sind die Schulen überwiegend in einem schlechten Zustand. Die Einrichtung und die Lehrmittel sind beschädigt oder zerstört, die Büchereien existieren nicht mehr, auch die sanitären Anlagen genügen kaum noch den Anforderungen.

Sponsels Bericht schließt mit den Worten: „Wie alle Sektoren des öffentlichen Lebens ist auch die Schule von der allgemeinen Not stark beeinflusst. Die (materielle) Not bringt es auch mit sich, dass wir wohl auf lange Sicht unseren Kindern einmal nichts weitergeben können, als eine sorgfältige Erziehung und eine gute Schulbildung."

Weitere Einblicke in die Interna des Schullebens anno 1946 gibt der stellvertretende Leiter der „Oberschule für Jungen und Mädchen des Zweckverbandes Höhere Unterrichtsanstalt Icking-Wolfratshausen ", dem heutigen Gymnasium Icking.

Ernst v. Hollberg vermeldet im Januar 1947 stolz: „Unsere Oberschule im Kreis Wolfratshausen läuft wieder auf vollen Touren." Eine solche Wertung hätte er ein Jahr vorher sicher nicht abgeben können. Am 22. November 1945 öffnet die Schule nach halbjähriger Unterbrechung mit Genehmigung der Militärregierung wieder, allerdings nur in vier Klassenzimmern, da die anderen mit Flüchtlingen belegt sind.

Der Unterricht kann an vier Tagen abgehalten werden. Der bauliche Zustand der Oberschule ist erbärmlich. Ein großer Teil der Schulbänke war nach Kriegsende verheizt worden, die verbliebenen sind durchwegs stark beschädigt.

Es gibt keine einzige Glühbirne mehr, die Lehrer führen in der Gemeinde eine Haussammlung durch. Die Sportgeräte sind gestohlen oder zerstört, ebenso physikalische Geräte und Unterrichts-Chemikalien. Das Anschauungs- und Kartenmaterial ist unauffindbar und sämtliche Schulbücher von den Amerikanern verboten.

Gleichwohl absolvieren die Klassen „dank der aufopferungsvollen Arbeit der Lehrkräfte" zwei Drittel des vorgeschriebenen Stoffes. Zum Ende des Schuljahres, im Sommer 1946, findet sogar erstmals wieder ein Konzert in der Schule statt.

Der Besuch der Oberschule kostet noch 1946/47 Schulgeld. Die allgemeine Not fordert die Solidarität der Eltern. Hollberg richtet einen Fond ein, in den besser gestellte Familien bedürftigen Kindern den Schulbesuch finanziell ermöglichen.

Geändert hat sich im Vergleich zur Kriegszeit auch der Unterricht selber. Wurde von den Nazis das Hauptaugenmerk auf körperliche Ertüchtigung gelegt, so gibt es 1946 nur noch zwei Turnstunden pro Woche. Für Wandertage ist angesichts des erschwerten Unterrichts überhaupt keine Zeit.

Die Entnazifizierung hat die Lehrerschaft verkleinert: Sieben Pädagogen wurden wegen ihrer NS-Vergangenheit entlassen. Bis Januar 1947 hat sich die Schülerzahl auf 235 erhöht. Unterrichtet werden sie von immerhin 14 Lehrern.



Der TÜV soll's richten

Die neue Ordnung, die Demokratie, stellt die Mitarbeiter des Landratsamtes  vor mannigfaltige Probleme. Vor allem die systematische Vernichtung der Akten durch die nationalsozialistischen Statthalter kurz vor Kriegsende machte einen fast vollständigen Neuaufbau der Verwaltung notwendig. Hans Schwibbacher, Leiter der Zulassungsstelle im Landratsamt Wolfratshausen, berichtet darüber am 24. Januar 1947 dem Kreistag.

Sämtliche Fahrzeuge erhalten 1946 neue Kennzeichen, sämtliche Führerscheine müssen umgeschrieben werden. Im Landkreis Wolfratshausen gilt dies für 3000 Pkw, Lastwagen und Motorräder. 3300 Bürger sind im Besitz einer Fahrerlaubnis. Aber noch mehr fahren Auto.

Schwibbacher: „Hunderte von Fahrzeughaltern stellten keinen Antrag auf Umschreibung auf eine By-Nummer, hauptsächlich weil sie keine Steuer bezahlen wollen und weil sie keine Fahrerlaubnis besitzen."

Die Kfz-Steuer wird 1946 ebenfalls bayernweit neu geregelt: Für stillgelegte Fahrzeuge muss nichts mehr bezahlt werden. Zum Nachweis dafür müssen die Eigentümer eine Bestätigung der „Betankungsstelle" beibringen, auf der verzeichnet ist, wie lange für den Wagen kein Benzin mehr bezogen wurde.

In Schwibbachers Behörde gibt es allerdings keine genauen Zahlen über den Fahrzeugbestand, da die zentrale  „Sammelstelle für Nachrichten über Kraftfahrzeuge" in Berlin (vergleichbar mit dem heutigen Kraftfahrt-Bundesamt) 1946 nicht mehr existiert. Viele Wagen haben den Besitzer gewechselt, andere wurden zerstört und wieder andere von den amerikanischen Besatzern als Beutegut konfisziert.

Laut Schwibbacher sind „viele Fahrzeuge nicht in einem verkehrssicheren Zustand". Über die Unterlagen der Betankungsstelle sollen alle Halter aufgefordert werden, ihre Wagen von der  „Technischen Prüfstelle"  in München (heute TÜV) auf Verkehrssicherheit überprüfen zu lassen.

Angesichts der geringen Zahl an Privatwagen kommt der Fahrbereitschaft, später umbenannt in Straßenverkehrsamt, eine besondere Bedeutung zu. Diese Behörde, Chef ist Karl Fuchs, organisiert den öffentlichen Güter- und  Personenverkehr. Laut Jahresbericht werden 1946 monatlich 3200 Tonnen Nahrungsmittel, 1200 Tonnen Brennstoffe, 4000 Tonnen Baumaterial. 740 Tonnen Getreide und 400 Tonnen andere Güter transportiert.

Außerdem unterhält die Fahrbereitschaft Omnibusse auf den Linien Dietramszell-München, Arget-Schönegg-Wolfratshausen, Ascholding-München und Wolfratshausen-Königsdorf. Darüber, welche Privatleute Bezugsscheine für Benzin erhalten, entscheidet ein Ausschuss des Kreistags. Ehemalige Parteimitglieder erhalten in der Regel nur dann Bezugsscheine, wenn die Spruchkammer sie als „Mitläufer" eingestuft hat.



Brennholz für München

Was gehört eigentlich wem? Wer hat sich was unrechtmäßig angeeignet? Wer muss was abgeben, zugunsten jener, die nichts haben? Ordnung ins Chaos zu bringen, das war die Aufgabe des Wolfratshauser Landratsamts in den ersten beiden Jahren nach Kriegsende. Ein beredtes Zeugnis davon legt der Bericht ab, den Ludwig Kollmeier vom Straßenverkehrsamt am 24. Januar 1947 vor dem Kreistag abgibt.

Eine der wichtigsten Aufgaben Kollmeiers ist der Verkauf ehemaligen Wehrmachtsguts. Waffen waren sofort nach Kriegsende von den Amerikanern beschlagnahmt und vernichtet worden, aber es existiert noch jede Menge herrenloses Kriegsmaterial.

Allein durch den Weiterverkauf von Kraftfahrzeugen, Ersatzteilen und Schrott erlöst Kollmeier 858 000 Reichsmark - eine Summe so hoch wie ein Drittel des gesamten Kreis-Haushalts. Über 90 Prozent davon gehen jedoch auf ein Regierungs-Sperrkonto.

Durch den Rückzug der Wehrmacht in Richtung Tirol und die Kapitulation der Soldaten blieb nicht nur Kriegsgerät im Landkreis zurück, sondern auch  Wehrmachtspferde. 939 Tiere macht Kollmeier zu Geld und kassiert dafür 457 000 Reichsmark.

Kollmeier ist auch verantwortlich für die Brennholzaktion. Zugunsten der ausgebombten Landeshauptstadt München wird im Landkreis Wolfratshausen ebenso wie in den Nachbarregionen Brennholz geschlagen und gesammelt.

Im Winter 1946 geht dies aber nicht ohne Probleme vonstatten. Kollmeier: „Die Haltung einzelner Waidbesitzer kann als unfreundlich bezeichnet werden,da harte Eingriffe in die Waldbestände gemacht werden müssen." Auch fehlt es an Arbeitskräften und der nötigen Bekleidung für größere Fällaktionen.



PG-Autos beschlagnahmt

Mangelware sind auch funktionierende Autos. Zwar sind zu Jahresanfang 1947 rund 3000 Kraftfahrzeuge zugelassen, viele davon sind nicht verkehrstüchtig, teilweise wurden sie auch bewusst beschädigt. Bis Jahresende 1946 führen die amerikanischen Besatzer nämlich noch Beschlagnahmungsaktionen durch. Kollmeier spricht von 91 Fahrzeugen.  Betroffen sind davon vornehmlich frühere Parteigenossen. Versteht sich von selbst, daß sich die Amerikaner nur die
besten und schönsten Autos unter den Nagel reißen.

Außerdem müssen nach Kollmeiers Darstellung weitere 32 Autos nach München für die Militärregierung, für Ministerien, Behörden und die UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA abgegeben werden.

Der Referatsleiter klagt darüber: „Durch diesen Abzug von Kraftfahrzeugen aus dem Landkreis, der auf höhere Anweisung unbedingt befolgt werden musste, sind die Bestände an Fahrzeugen sehr reduziert worden.
Eine Reserve an brauchbaren Fahrzeugen ist nicht mehr vorhanden. Darum ist der Landkreis nicht mehr imstande, der zur Auflage gemachten Ablieferung weiterer Pkw nachzukommen."

Bei den meisten der verbliebenen Autos wurden wesentliche Teile abmontiert, meist die kompletten Räder, um sie für Beschlagnahmungen wertlos zu machen. Zu leiden haben darunter aber jene Firmen und Fuhrunternehmer, die für Lebensmitteltransporte zuständig sind, denen aber Fahrzeuge fehlen.

Sehr kritisch ist der Mangel an Reifen. Kollmeier nennt die Lage „angespannt". Monatlich vier oder fünf Reifen bekommt das Straßenverkehrsamt zur Verteilung für den gesamten Landkreis geliefert, allerdings lediglich Motorrad-und Lkw-Reifen.

Anfangs wurde dieser Mangel ausgeglichen, in dem die Bauern Reifen von Gummiwagen hergeben mussten. Landrat Willy Thieme unterband die Beschlagnahmungen allerdings, weil sie für die Bauern große Härten mit sich brachten. Kollmeier resigniert: „Eine vorgesehene Entreifungsaktion sämtlicher stillgelegter Fahrzeuge dürfte keine wesentliche Besserung herbeiführen, da bereits während des Krieges ein großer Teil beschlagnahmt und entreift wurde."



Lohnkosten für Flüchtlinge

Die Niederlage im Krieg müssen selbst die unteren Behörden 1945/46 teuer bezahlen. Die Rede ist hier nicht von Lebensmittel- und Wohnraum-Knappheit. Nein, es geht um direkte Zahlungen. Allein 1946 hatte der Landkreis Wolfratshausen 1,8 Millionen Reichsmark Besatzungskosten zu tragen, berichtet der Leiter des Referats V, Köppl am 24. Januar 1947 dem Wolfratshauser Kreistag - der eigentliche Kreishaushalt war mit rund 2,5 Millionen Reichsmark nicht wesentlich höher.

Im Oktober 1946 erlässt das bayerische Arbeitsministerium die Anordnung, dass zehn Prozent der in den Lagern der UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA untergebrachten Personen vom Landratsamt entlohnt werden müssen.

Für Wolfratshausen eine hohe Last:
Gibt es doch im Landkreis gleich zwei große Lager,
das so genannte "Balten-Lager" in Stein mit 120 Lohnempfängern
und das jüdische DP-Lager Föhrenwald mit 350 Lohnempfängern
sowie 120 deutschen Angestellten.

Weitere Besatzungs-Organisationen, die vom Landratsamt mitfinanziert werden müssen, sind die Militärregierung Wolfratshausen, das CIC Wolfratshausen und dessen Hauptquartier im Schloß Weidenkam. das DP-Control-Office, das Hochlandlager Königsdorf und Schloß Seeburg.

Zu Köppls Arbeitsbereich gehört auch die Baupolizei, gleichbedeutend mit dem heutigen Kreisbauamt. Im Jahr 1946 liegt die Bauwirtschaft im Landkreis allerdings am Boden, aus einem einfachen Grund: Es gibt keine Baumaterialien.

Trotz enormer Wohnungsnot werden nur 405 Bauanträge eingereicht, in erster Linie geht es um Instandsetzungen. Reparaturen und Anbauten. 45 Prozent davon betreffen den landwirtschaftlichen Bereich, ein Fünftel Gewerbe und Industrie und nur 35 Prozent den Wohnungsbau.

Ein großes Problem bereiten 1946 allerdings die Schwarzbauten. In Zusammenarbeit mit der Landpolizei verhängen die Beamten Geldstrafen. Die Gebühren für Baugenehmigungen richten sich übrigens nicht nur nach den Baukosten, sondern auch nach den wirtschaftlichen Verhältnissen des Bauwerbers.



Kein Papier für die Zeitung

Der heutige Überfluss macht die Not nach Kriegsende unvorstellbar, für all jene, die sie nicht erlebt haben. Mangelware sind alle Dinge des täglichen Bedarfs, selbst Schnürsenkel sind kaum erhältlich. Und auch das Papier ist knapp, weshalb es ab 1. Juni 1946 keinen „Loisach- und Isarboten" mehr gab, wie Helmut Johanni, Referatsleiter im Landratsamt, am 24. Januar 1947 dem Kreistag berichtete.

1945 ist der „Loisach- und Isarbote" das Amtsblatt der Militärregierung. Er erscheint zweimal in der Woche in einer Auflage von 6000 Stück: Gemeinderats¬und Kreistagswahlen werden hier verkündet, die Entnazifizierungsgesetze veröffentlicht und die Namen von früheren Parteigenossen, die ihre Stelle verloren.

Unter dem Zwang der Papierknappheit ordnet das Innenministerium im Mai 1946 die Einstellung der Zeitung an. Das neue Amtsblatt, das an die Stelle der offiziellen Zeitung tritt, erscheint nur noch im DIN-A 4-Format. Die Schrift wird verkleinert, die Auflage beträgt lediglich 3500 Stück. Johanni: „Nicht weniger als 12 000 Bogen Papier werden dadurch monatlich eingespart.''

Die dadurch entstandene Informationslücke füllt teilweise der Hörfunk. Radio München sendet immer wieder Berichte aus dem Landkreis, etwa über die Eurasburger Wollreißerei Jahn & Co., über die Fabrik Wolfratshausen, die Torfgewinnung der Loisachgemeinden und kulturelle Veranstaltungen.

Nicht zuletzt wird eine Ansprache von Landrat Willy Thieme am 10. November 1946 ausgestrahlt, „die weit über die Grenzen des Landkreises hinaus stärkste Beachtung und lebhafte Zustimmung gefunden hat" (Johanni).



Vereine brauchen Genehmigung

Nach dem Krieg gründen sich auch viele Vereine neu. Bis Juli 1946 benötigen sie dafür eine Lizenz der Militärregierung,
danach ist das Landratsamt für Genehmigungen zuständig, insbesondere für eine „politische Überprüfung".

Im Januar 1946 sind 26 Vereine wieder zugelassen: elf Trachtenvereine, fünf Bienenzuchtvereine, sechs Turn- und Sportvereine und vier - wie es heißt - allgemein-gesellige Vereine. Jedes Treffen bedarf ebenfalls einer behördlichen Genehmigung. Doch das Vereinsleben ist rege, wie durchschnittlich 35 Veranstaltungen im Monat belegen.




Hilfe für München

Bauern müssen Hauptstadt miternähren

Der Landwirtschaft kam in der Nachkriegszeit eine besondere Bedeutung zu. Nicht nur, dass die Landeshauptstadt München von den umliegenden Landkreisen teilweise mitversorgt werden musste, auch die Ernährung der eigenen Bevölkerung war Sache der Bauern vor Ort.

Lebensmittel-Transporte über weitere Entfernung waren schon wegen des Benzinmangels kein Thema. Über die Situation vor Ort berichtete Regierungs-Veterinärrat Dr. Ebersberger am 24. Januar 1947 dem Kreistag Wolfratshausen.

Laut Ebersberger sind die Stallungen 1946 gut gefüllt. Zwar müssen die Bauern immer wieder Kühe und Bullen abliefern,
sie züchten aber mit allen verfügbaren Kräften nach. Probleme dabei bereiten jedoch verschiedene Tierseuchen.

Die Maul- und Klauenseuche tritt zwar nicht auf, dafür aber die Bang- und die Trichomonadenseuche, vielfach wird auch über Unfruchtbarkeit der Kühe geklagt. Ursache sind nach Meinung des Veterinärmediziners vor allem der Mangel an Kunstdünger und an Kraftfutter.

Die Böden der Wiesen sind ausgelaugt, es fehlt dem Futter an Vitaminen und Metallsalzen. Die Schweinezucht spielt auch nach dem Krieg keine Rolle, Schafe werden in größeren Herden vor allem in Baierbrunn und in Straßlach gehalten.

Hausschafe werden nur für den eigenen Bedarf an Wolle gezüchtet. Die Geflügelzucht ist dagegen Sache der Bäuerinnen.
Einige Geflügelfarmen versorgen die Bauernhöfe im Landkreis Wolfratshausen mit Küken. Pferde sind 1946 ganz groß im Kommen. Ebersberger: „Wohl noch nie sind im Bezirk so viele Pferde gehalten und zur Zucht verwendet worden." Zum Decken der Stuten dienen zehn Hengste eines Landwirts in Grafing (Landkreis Ebersberg). Außerdem gibt es drei Trabergestüte in Icking, Straßlach und Otterfing sowie eine Haflingerzucht in Mooseurach.

Milchsammelstellen und Molkereien sind über den gesamten Landkreis verteilt, allerdings lassen diese Betriebe, laut Veterinäramt, „im Gegensatz zu den Metzgereien hygienisch viel zu wünschen übrig". Die Maschinen sind veraltet und die baulichen Anlagen in einem schlechten Zustand.

Ebersberger berichtet außerdem: „Die Ausübung des tierärztlichen Berufs wurde durch Mangel an Treibstoff und Fehlen der einfachsten Arzneimittel und der Impfstoffe ganz erheblich erschwert, zeitweise unmöglich gemacht. Wenn es zur Zeit auch etwas besser geworden ist, so ist doch noch lange nicht der Friedensstand erreicht.



Ein paar Schuhe für jeden dritten Bürger

Rückständige Provinz, technologiefeindliches Bergland? Beileibe nicht, auch 1946 ernährte sich zwar noch ein Großteil der Bürger im damaligen Landkreis Wolfratshausen von der Landwirtschaft. Weniger modern als die Münchner waren die Menschen hier allerdings nicht, wie ein 1946 oder 1947 erstellter Vergleich des Landratsamts über die Zuteilung wichtiger Verbrauchsgüter zeigt.

Bittere Not litten die Menschen in Wolfratshausen ebenso wie in München. Besonders Kleidungsstücke wie Schuhe waren ebenso knapp wie kostbar. Laut Statistik bekamen die 39 500 Einwohner des Landkreises 12 750 Paar Schuhe zugeteilt. Anders ausgedrückt: Zwei von drei Landkreisbürgern mussten mit dem Schuhwerk auskommen, das sie hatten. In München (772 000 Einwohner) bekam wenigstens jeder zweite ein Paar neue Schuhe.

Dazu paßt eine Anekdote aus den Stunden vor dem Einmarsch der Amerikaner am 29. April 1945: Wie ein Lauffeuer verbreitete sich von Wolfratshausen bis Dorfen die Nachricht, dass ein amtliches Schuhlager von der Wehrmacht nicht mehr bewacht werde. Von weither kamen damals die Menschen, um zu plündern. Der Aufforderung der Besatzungsmacht, die Schuhe wieder zurückzugeben, folgte am Tag darauf kaum jemand.

Auch mit Möbeln und Schlafzimmern war München mehr gesegnet als der Kreis Wolfratshausen: Hierher wurden 2300 Möbelstücke (auf die Bevölkerung gerechnet: 0,039 Prozent) und 31 Schlafzimmer (0,0007 Prozent) geliefert, die Landeshauptstadt bekam 72 068 Möbelstücke (0,093 Pozent) und 776 Schlafzimmer (0,001) zugeteilt.

Anders die Situation bei den Kinderwagen: Für Wolf ratshausen gab's 60 - das im Verhältnis der Einwohner Sechsfache von München (200). Auch bei den Radios schnitt Wolfratshausen besser ab: 21 zu 256 in München.

Selbst mit Fahrrädern waren die Leute auf dem Land mehr gesegnet. Ihnen wurden 94 Stück geliefert, München mit seinen 772 000 Einwohnern bekam nicht einmal 1000.

Allerdings schlug der Mangel an Reifen da wie dort gleichermaßen durch. Und auch Uhrenwecker, heute ein Drei-Euro-Artikel, waren Mangelware: Im Landkreis Wolfratshausen konnten sich gerade einmal 93 Menschen morgens wachklingeln lassen.



Naturschützer des Amtes enthoben

Wer hätte das gedacht? Umwelt- und Naturschutz sind keine Erfindung der 1970er Jahre, als der Freistaat Bayern richtungsweisend für die ganze Bundesrepublik das erste Umweltministerium gründete. Schon 1946, als das ganze Land unter dem verlorenen Krieg litt, beschäftigte sich Dr. Kühn am Landratsamt Wolfratshausen mit der Ökologie. Einen zugegebenermaßen recht kurzen und wenig ermutigenden Bericht gab er dem Kreistag am 27. Januar 1947.

Das Gesetz, auf dem die Arbeit der Behörde beruhte, stammte aus dem Jahr 1936. Während des Krieges - die wehrfähigen Männer waren an der Front - ruhte die Arbeit der amtlichen Naturschützer allerdings, wie auch noch nach Kriegsende.

Kühn: „Die Tätigkeit ist neuerdings durch die Ausschaltung politisch belasteter Personen so gut wie zum Erliegen gekommen." Das betreffe auch die ehrenamtlichen Mitarbeiter: „Sowohl der Kreisbeauftragte für Naturschutz (Schulrat B. in Dingharting), als auch die einzelnen örtlichen Beauftragten (fast ausnahmslos Lehrer) haben deshalb ausscheiden müssen."

Eingesprungen ist dafür die Bergwacht Wolfratshausen unter der Leitung ihres Vorsitzenden Hartl. Seit Frühjahr 1946 führt sie während der Blütezeit geschützter Pflanzen „Überwachungsgänge" in den Naturschutzgebieten durch, insbesondere in der Pupplinger- und in der Ascholdinger Au. Dr. Kuhns Appell: „Zu begrüßen wäre es, wenn sich recht bald eine mit dem hiesigen Kreis und seiner Bevölkerung vertraute Persönlichkeit finden würde, welche das mühevolle, aber auch schöne Amt des Kreisbeauftragten für Naturschutz übernehmen würde."

Immerhin, der Krieg habe im Landkreis Wolfratshausen kaum gewütet: „Die schöne Voralpenlandschaft ist so gut wie unbeschädigt geblieben. Es kommt jetzt darauf an, sie auch in der Zukunft ungeschmälert zu erhalten, nicht nur im Interesse des Fremdenverkehrs, sondern zur Freude der Einwohnerschaft selbst."



Thieme: Dirigent des (Amts-)Orchester

Das Schlusswort gebührte dem Landrat. Am Ende der Mammutsitzung des ersten vom Volk gewählten Kreistags am 27. Januar 1947 standen ein paar grundsätzliche Anmerkungen von Landrat Willy Thieme, in denen er auch den Übergang zur Demokratie beleuchtete. Auszüge aus Thiemes Ansprache:

Mit dem „Führerprinzip'', das Deutschland ab 1933 in die Katastrophe geführt hatte, will Landrat Thieme nichts zu tun haben. Er macht dies auch an kleinen Dingen deutlich. Mussten Briefe an die Kreisbehörde bis 1945 den Adressat „Der Landrat" tragen, so verlangt Thieme nur noch die Bezeichnung „Landrats-amt".

Sein Verhältnis zur Behörde vergleicht der SPD-Politiker mit dem eines Dirigenten zum Orchester: Die Gesetze sind das Thema, Ausführungsbestimmungen die Noten, die Sachbearbei¬ter die Solisten, die die ersten Geigen spielen, und der Landrat der Dirigent, die die Einsätze vorgibt, das Tempo bestimmt „und so das ganze Orchester zum Klingen bringt".

Nach knapp einjähriger Arbeit sieht Thieme auch das Verhältnis zur amerikanischen Militärregierung in „gutem Einvernehmen". Selbst die konfliktträchtigen Beziehungen zur UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA, die 6000 heimatlose, vorwiegend jüdische Ausländer im Landkreis betreut, beschreibt der Landrat als „zufriedenstellend": „Die UNRRA milderte manch harte Anforderung an uns nach freundschaftlicher Aussprache".

Was nichts daran ändert, dass das Flüchtlingsproblem 1947 die härtesten Anforderungen stellt: „Die größte Bürde, die dem Landkreis auferlegt wurde und die er willig auf sich nahm, war die Einweisung der Evakuierten und heimatlos gewordenen, ausgewiesenen Deutschen aus dem Ostraum."

Zwischen 1939 und 1946 verzeichnete der Landkreis einen Bevölkerungszuwachs um 62 Prozent und steht damit an zweiter Stelle in Bayern. Der Durchschnitt in Oberbayern wird um das Dreieinhalbfache überschritten. „In der Prozentzahl sind nicht eingerechnet, die 6000 Verschleppten, die große Wohngebiete in Anspruch nehmen, die früher von unserer heimischen Bevölkerung bewohnt wurden (etwa Lager Föhrenwald, das heutige Waldram, d. Red.)."

Für sie alle muss Wohnraum bereitgestellt werden, weshalb Thieme auch ein Ende der Zuweisungen fordert: „Es erscheint mir nicht als eine ablehnende Haltung gegenüber den jetzt noch Unterkunft Suchenden, wenn ich im Namen des Landkreises erkläre, dass für den Augenblick Schluss gemacht wird."

Der örtliche Flüchtlingskomissar und das ihm unterstellte Kreiswohnungsamt seien „vollkommen desorganisiert" und hätten kein klares Bild mehr, ob Wohnungen zur Verfügung stehen und „wie viele Unterkunftsbedürftige ein menschenunwürdiges Quartier gegen ein besseres tauschen müssen".

Pessimistisch sieht Landrat Thieme auch die wirtschaftliche Situation im bis dahin landwirtschaftlich geprägten Landkreis: „Mit der starken Bevölkerungszunahme wird eine gebieterische Änderung erforderlich." Die Landwirtschaft könne das Erforderliche ohne staatliche Hilfe auch nicht leisten, da es an Maschinen, Werkzeug, Hilfskräften, Arbeitskleidung und Kunstdünger fehle.

„Das Kapital der Bauern, sein Waldbestand, ist auf das Schwerste durch die angeordneten Zwangseinschläge gefährdet."
Zwar gebe es Hoffnungen, durch Friedensindustrien in der einstigen (Rüstungs-)Fabrik Wolfratshausen verstärkt Arbeitsplätze zu schaffen. Dafür sei allerdings auch die Mitarbeit der Besatzungsbehörden notwendig. Thiemes Fazit: „Die Existenzaussichten für das nächste Dezenium sind unerfreulich."




Was will Thieme?

Pocci stellt Misstrauensantrag im Kreistag

Von Harmonie keine Spur: In der fünften Sitzung des Kreistags am 2. Juli 1947 gerät Landrat Willy Thieme unter Druck.
Hans-Friedrich Graf Pocci aus Ammerland, der einzige Vertreter der Wiederaufbauvereinigung, stellt im Kreistag einen „Mißtrauensantrag". Der Kreistag, so sagt er, werde nicht genügend über die Vorgänge in der ehemaligen (Rüstungs-)Fabrik Wolfratshausen informiert.

Halbjährlich erstattet Landrat Thieme in den Kreistags-Sitzungen Bericht über die Entwicklung des späteren Geretsrieds, wo 1946 lediglich das Lager Buchberg auf der Böhmwiese eine nennenswerte Besiedlung aufweist.

Bis zur Jahresmitte 1947 sind 19 Betriebe in die so genannten „Voralpenwerke" eingewiesen worden, die Produktion läuft allerdings nur eingeschränkt, weil es an Rohstoffen, an Kohle und vor allem an Arbeitskräften mangelt.

Thieme spricht von „unhaltbaren Zuständen": „Es geht nicht an, dass der Landkreis unter seiner Übervölkerung stöhnt, und ächzt, auf der anderen Seite aber keine Arbeitskräfte zur Verfügung stehen."

Den Kreisräten genügt Thiemes Bericht allerdings nicht. Das riesige Areal, umgeben von zwei Meter hohem Stacheldraht, ist ihnen offensichtlich nicht nur wegen dessen Vergangenheit als geheime Rüstungsschmiede unheimlich.

Kreisrat Fritz Bauereis, SPD: „Wir wissen von der Fabrik Wolfratshausen nichts. Eine Besichtigung wurde in der  Kreisausschuss-Sitzung angeregt. Dazu ist unbedingt sachkundige Führung notwendig."

Für Unmut in der Bevölkerung habe auch das im Landratsamt eigens für die Überplanung der Rüstungsbetriebe geschaffene Referat X gesorgt. Bauereis: „Aufgaben und Tätigkeiten sind unbekannt, jedoch wird behauptet, dass die Tätigkeit über die Kompetenzen des Referats weit hinausgehe, namentlich im Hinblick auf die Benzinverteilungen."

Graf Pocci, der Bauereis' Kritik unterstützt, formuliert aus der Diskussion heraus einen „Misstrauensantrag": „Er richtet sich dahin, dass alles, was da oben geschieht, sich praktisch für uns hinter Klausur ereignet. Wir wissen nichts. Wir hören nur, können aber keine Aus¬kunft erteilen und auch nirgends fragen."

Thieme reagiert verstimmt, ja verärgert auf die Pocci-Vorwürfe: „Es befremdet mich, dass Sie angeblich nicht unterrichtet sind, nachdem bereits in der vierten Kreistags- (am 27. Januar 1947, d. Red.) und in Kreisausschuss-Sitzungen eingehend Bericht erstattet wurde." Jeder Kreisrat habe jederzeit die Möglichkeit bei ihm, Thieme, nachzufragen: „Ich fühle mich nicht schuldig, da ich niemandem eine Auskunft versagt habe, im Gegenteil."

Auch über das Reizthema Benzinzuteilungen sei berichtet worden, sagt der Landrat. Es handle sich um Sonderzuweisungen an neue Betriebe, die vom Referat X eigenverantwortlich, „nach einem bestimmten Schlüssel" verteilt werden: „Wir haben hier ein Exempel statuiert. Wir als einziger Landkreis haben ein wirtschaftliches Unternehmen aufgezogen. Die Kompetenz haben wir uns durch unsere Arbeit erkämpft."

Die Besitzverhältnisse der Fabrik Wolfratshausen sind allerdings, wie Thieme den Kreisräten bestätigt, undurchsichtig. Verfügungsgewalt über das Gelände hat der „Property Control Officer" der amerikanischen Militärregierung (auch IG-Farben-Offizier genannt), auf deutscher Seite wird das Gelände irgendwann vom Landesamt für Vermögensverwaltung übernommen, so Thiemes Kenntnisstand.

Die Firmen treten als Pächter auf, allerdings sind noch keine Verträge geschlossen. Damit sei bis 1952 zu rechnen, so Thieme (tatsächlich dauert es sogar noch vier Jahre länger, d. Red.).

Dem Kreistag genügen indes auch diese Auskünfte nicht. Auf Antrag von Fritz Bauereis bildet das Gremium einen dreiköpfigen Ausschuss, der die Arbeit des Referats X kontrollieren soll. Pocci zieht darauf seinen „Mißtrauensantrag" zurück.

Landrat Thieme in seinem Schlußwort zu Überfremdungs-Bedenken: „Der Bau einer Stadt von 12 000 Menschen wird sich auch für die Firmen der Marktgemeinde nicht ungünstig auswirken. Soweit sie sich gemeldet haben, sind einheimische Betriebe draußen."




Neues Röntgengerät

Investieren vor der Währungsreform

Auf sein Krankenhaus ließ der Landkreis Wolfratshausen auch in den schweren Zeiten nach Kriegsende nie etwas kommen: Gesundheitsvorsorge war für den Kreistag stets ein bedeutsames Thema, so wie in der fünften Sitzung am 2. Juli 1947.

Wie groß jedoch auch die Personalnot der öffentlichen Verwaltung nach dem Krieg war - die Militärregierung entfernte alle ehemaligen Parteigenossen aus ihren Ämtern - zeigt der Stellenplan des Landratsamts, der in der gleichen Sitzung diskutiert wurde.

Rund 80 000 Reichsmark kosten die Baumaßnahmen im Krankenhaus. Inbegriffen ist ein neues Röntgengerät für die Chirurgie. Kreisrat Schießl stößt sich an der Neuanschaffung: „Erst vor kurzem hat man uns gesagt. dass die Röntgenanlage modernsten Anforderungen entspricht."

Antwort der Verwaltung: „Die Innere Abteilung besitzt eine moderne Röntgenanlage. Die in der Chirurgie genügt nach Angaben der Arzte nicht mehr den gesteigerten Anforderungen. Die Anlage wird täglich über das Maß beansprucht."

Die Umbau genannte Maßnahme im Krankenhaus beinhaltet übrigens neben Reparaturen in erster Linie die Beseitigung von Anlagen aus dem Krieg, etwa des betonierten Fluchtstollens (870 Reichsmark), der Splittermauern (250 Mark), des inneren Deckungsgraben (550 Mark) und des Tarnanstriches (3000 Mark).

Das dabei gewonnene Holz soll als Brennstoff verheizt werden. Aus der einstigen Entlausungsanstalt wird ein Lagerschuppen. Ganz neu ist ein „Aufzugsanbau einschließlich Schwergewichtsschacht am Ostbau" (15 900 Mark). Die Maßnahme erscheint der Krankenhausverwaltung ebenso wie das Röntgengerät dringlich.

Kreisrat Fritz Bauereis, SPD, weiß warum: Es sei wichtig, „die Rücklagen noch möglichst nutzbringend anzulegen, da nach einer eventuellen Währungsreform Ausgaben in dieser Höhe wohl nicht mehr so leicht möglich sind."

Die Arbeit der Kreisverwaltung erledigen im Übrigen, wie aus dem in der Sitzung vorgelegten Stellenplan hervorgeht, 15 Beamte (darunter der Leiter der Kreissparkasse), 27 Angestellte und 21 auf Zeit eingestellte Hilfskräfte.

Die Diskussion über den Stellenplan ist (wie 1996 noch immer, d. Red.) kontrovers. Martin Eichner aus Lochen kritisiert ebenso wie Josef Schwaiger (Wolfratshausen) „zu viel höhere Beamtenstellen''. Außerdem sollten „Arbeiter der Stirn und der Faust" die gleiche Bezahlung haben.

Kreisrat Schießl möchte den Stellenplan bis nach der Währungsreform zurückstellen. Die Kontroverse schlägt sich auch im Abstimmungsergebnis nieder: 19 Kreisräte stimmen für den Stellenplan, 13 dagegen.




Der Bezirksamtmann

Landrat ist ein Titel der Nazis

Bezirksamtmann - so würde Manfred Naglers Amtstitel heute lauten, wenn das Bayerische Innenministerium 1947 an seinen Plänen zur Novellierung der Landkreisordnung festgehalten hätte. Noch etliche andere Umbenennungen und Neuerungen waren geplant.  Was Landrat Willy Thieme dem Kreistag am 2. Juli 1947 berichtet, ist alles noch nicht offiziell:

Zum 1. April 1948 soll eine neue Bezirksordnung in Kraft treten, die die nach Kriegsende mit heißer Nadel gestrickte vorläufige Landkreisordnung ersetzt. Einige wichtige Neuerungen seien ,,mit Sicherheit" zu erwarten. Dazu gehört, daß das Landratsamt den Namen Bezirksamt erhält und der Landrat den Titel Bezirksamtmann.

Beide Umbenennungen wurzeln in dem Willen mit den Überbleibseln der Nazi-Diktatur zu brechen: Die Bezeichnung  Landratsamt und Landrat waren von den Nationalsozialisten eingeführt worden. Natürlich war der Landrat - in Wolfrats¬hausen Adolf v. Liederscron - auch nicht demokratisch gewählt, sondern von der Partei ins Amt berufen.

Wie Thieme aus dem Innenministerium erfahren hat, sollen mit Inkrafttreten der neuen Bezirksordnung die Wahlen nur noch alle sechs Jahre stattfinden, zudem soll der Landkreis die Zuständigkeit für den Straßenbau bekommen, also: ,,nicht nur zahlen, sondern auch anschaffen".

Landrat Thieme selbst beteiligt sich auch mit Vorschlägen an der neuen Verordnung. Er stellt ans Innenministerium einen Antrag, „dass die Pflege des geistigen, sittlichen, und wirtschaftlichen Wohles der Einwohner und deren Erziehung zur Gemeinschaft des ganzen Volkes Aufgabe der Bezirke ist". Thieme muß allerdings vor dem Kreistag bekennen, dass „die Einführung dieses Satzes sehr umstritten" sei.

Immerhin hat der Landtag den Antrag „genauestens erwägt" und ihm dann zugestimmt. Ein Sieg der Demokratie und der kommunalen Selbstbestimmung: Immerhin habe die Arbeit auch des Wolfratshauser Kreistags gezeigt, dass die „gewählten Mitglieder" nicht nur mit Pflichtaufgaben befasst, sondern auch gestalterisch tätig sein wollen.

Um ihnen dafür auch das nötige Rüstzeug an die Hand zu geben, plant Thieme für den Herbst 1947 eine Vortragsreihe über Kommunal- und Staatspolitik und Parlamentarismus. „Ich zähle schon heute auf eine rege Teilnahme. Wie schon öfter erklärt, hat die Demokratie einen viel komplizierteren Mechanismus als die Diktatur, und es ist unerlässlich, dass wir uns in der Handhabung dieses Mechanismus schulen."

Nachtrag: Die neue Landkreisordnung tritt tatsächlich am 1. April 1948 in Kraft. Auf die Umbenennungen in Bezirksamt und Bezirksamtmann wird jedoch verzichtet. Stattdessen wird später eine kommunale Struktur geschaffen.

Die althergebrachte (staatliche) Regierung von Oberbayern mit dem vom Freistaat benannten Regierungspräsidenten bekommt eine zweite kommunale Ebene, den Bezirkstag. Dessen Mitglieder werden vom Volk gewählt.

Landrat Willy Thieme wird übrigens ein „Opfer" der neuen Verordnung. Bei der Landratswahl am 25. April 1948 - der ersten überhaupt, bei das Kreisoberhaupt vom Volk gewählt wird - muss der SPD-Politiker seinen Sessel dem Ickinger Herausforderer Dr. Karl Reichhold (CSU) räumen.




Arbeitsnotstand

Industrie fehlen die Mitarbeiter

Die Klage ist heute so aktuell wie vor 50 Jahren: Auf der einen Seite muss der Staat für viele Beschäftigungslose Unterstützung leisten, und auf der anderen Seite gibt es einen Arbeitskräftemangel.

Mit diesem Phänomen musste sich 1947 auch der Wolfratshauser Landrat Willy Thieme herumschlagen und erstattete dem Kreistag am 2. Juli 1947 über seine Bemühungen und die Situation Bericht.

Die Rede ist von „Scheinarbeitsverhältnissen" und vom „Sinken der Arbeitsmoral". Thieme bittet sogar den Präsidenten des Landesarbeitsamt Bayern-Süd um Hilfe wegen des „Arbeitsnotstands".

Gerade für die im Aufbau befindliche Industrie in der Fabrik Wolfratshausen (heute Geretsried, d. Red.) besteht ein großer Bedarf an Arbeitskräften. Thieme läßt eigens die Arbeitskarteiblätter der Gemeinden Königsdorf, Beuerberg und Gelting (Lager Buchberg gehört dazu, d. Red.) durchsehen, da hier die meisten Vertriebenen untergekommen sind. Auch die Lebensmittelkarten werden zur Überprüfung der Arbeitsfähigkeit herangezogen. Das Ergebnis ist entmutigend.

Gerade einmal 24 Leute werden aufgestöbert, die der allgemeinen Aufforderung, zu arbeiten, nicht nachgekommen sind. Viele andere Flüchtlinge sind hingegen zu alt oder können aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten.

Ein weiterer Grund: „Erschwerend für den Arbeitseinsatz von jüngeren Frauen ist, dass nach den Bestimmungen des  Arbeitsamts verheiratete Frauen mit eigenem Haushalt, selbst wenn sie keine Kinder haben, nicht zur Arbeit verpflichtet werden können."

In diese Gruppe fallen gerade jene Frauen, deren Männer im Kriegseinsatz vermisst werden oder die in Gefangenschaft sind. In Zusammenarbeit mit Arbeitsamt und Ortskrankenkasse lässt Thieme weitere Unterlagen auswerten. Das Ergebnis:

Von 20 000 registrierten Arbeitskräften stehen 15 000 als Arbeiter, Angestellte oder Beamte in einem Beschäftigungsverhältnis - zwei Drittel Männer, ein Drittel Frauen. Welchen Anteil daran Vertriebene haben, macht Thieme an einer anderen Zahl deutlich: Zwar hat die Bevölkerung  um 62 Prozent zugenommen, die Zahl der Arbeitskräfte aber nur um 24 Prozent.

Aber das ist nicht allein Grund dafür, warum 1947 die Produktionsleistung nicht einmal halb so hoch ist wie vor dem Krieg: Entscheidender sind die knurrenden Mägen. Thieme: „Die Leistungsfähigkeit der Arbeiter dürfte sich aus Ernährungsgründen um schätzungsweise 40 Prozent vermindert haben." Weil es ausgerechnet am Grundnahrungsmittel
Kartoffeln mangelt, nimmt der „Normalverbraucher" täglich nur rund 900 Kalorien (wie 150 Gramm Schokolade, d. Red.) zu sich.



Menschen sind zu erschöpft

Um den desolaten Zustand des Arbeitsmarktes näher zu beschreiben, bringt der Landrat in seinem Bericht ein Beispiel: Den Bau einer neuen Brücke über den Loisachkanal bei Gelting (die alte war von der SS vor dem Einmarsch der Amerikaner gesprengt worden, d. Red.). Weil die Arbeiter nicht in der Lage waren, eine ganze Schicht durchzuhalten, konnte der Neubau nicht zum vorgesehenen Zeitpunkt abgeschlossen werden.

Von 60 dafür eingeteilten Arbeitskräften waren überhaupt nur 20 in der Lage, zu arbeiten, und diese mussten spätestens um 14 Uhr erschöpft aufhören. Weite Wege etwa vom Lager Buchberg zur Arbeitsstelle in Gelting sorgten dafür, dass die hungrigen Männer schon erschöpft waren, wenn sie erst mit dem Arbeiten anfingen.

Zudem fehlt es an Werkzeug sowie an Kleidung und Schuhen. Thieme berichtet: „Die übermäßige Belastung der Bäuerinnen schon in der Kriegszeit wirkt sich in vorzeitigen Verbrauchserscheinungen aus." Die Bauern hingegen sind dadurch behindert, dass sie mangels Ersatzteilen auch mit kaputten Maschinen weiterarbeiten müssen.

Den Fleischern fehlen Scheuerlappen und Messer, den Sattlern das Flickleder, den Schmieden die Schmiedekohle, den Schreinern der Leim und den Friseuren die Kämme. Die Folge: Es wird gestohlen, was das Zeug hält - nicht nur zum eigenen Bedarf, sondern auch zum Tausch gegen Nahrungsmittel. Thieme: „Die sittliche Verwilderung in allen Ständen hat heute weite Verbreitung."
 
Der Landrat äußert dafür aber auch ein wenig Verständnis. Denn: „Die Verschlechterung der Wirtschaftslage macht die Bevölkerung hoffnungslos." Die Löhne seien nicht mehr ausreichend, um Familien zu ernähren. Schuld daran sei auch das „anfängliche Versagen" der Bezugskarten-Wirtschaft. „Dadurch wird der illegale Handel zu einem nicht mehr zu übersehenden Faktor im wirtschaftlichen Leben."

Besonders stark abgelehnt wird die Arbeit auf den Bauernhöfen. Aber gerade dort ist der Mangel an Arbeitskräften groß. Thieme: „Die Landarbeit ist bei den arbeitssuchenden Kräften wegen der Freizeitbeschränkung wenig beliebt."

Besonders die Landjugend drückt sich nach Thiemes Erkenntnissen vor der Stall- und Feldarbeit, in der Befürchtung, sich damit den Zugang zu einem gewerblichen Beruf zu verbauen und als Hilfsarbeiter zu enden. Der Landrat fordert darum, Mittel und Wege zur Umschulung von Landarbeitern. „Eine solche Planung wäre die beste Werbung."

Gerade auf den Bauernhöfen wirkt sich der Arbeitskräftemangel aber besonders negativ aus. Wenn die Ernte nicht  eingefahren werden kann, kann auch die Stadtbevölkerung nicht mit Nahrungsmitteln versorgt werden. Andererseits: Wer dort arbeitet, lässt sich mit Getreide, Eiern, Fleisch und Fett bezahlen und nicht mit Geld. „Die Lebensmittel, die dadurch der Allgemeinheit entzogen werden, sind beträchtlich."

Zudem wird auch direkt auf den Äckern „organisiert" - vor allem im Umfeld des Lagers Buchberg, wo vielfach die  Saatkartoffeln vorzeitig ausgegraben werden. Thieme zur Flüchtlingsproblematik: „Die Zusammenballung von zur Entwurzelung gebrachten Menschen in größerem Umfang, ohne sie vorläufig in ein normales Wirtschaftsleben einzubauen, ist so eine ständige Gefahr der weiteren Demoralisierung und Verärgerung weiter Bevölkerungskreise."




Kampf dem Kartoffelkäfer

Wassersuppe und Gemüse für die Arbeiter

Die Not der Nachkriegsjahre ist kaum vorstellbar. Während es heute Nahrungsmittel im Überfluss gibt, waren 1946/47 selbst in einem so landwirtschaftlich geprägten Landkreis wie Wolfratshausen Grundnahrungsmittel Mangelware. Beispiel Kartoffeln: Sie wurden zwar überall im Land-kreis angebaut, infolge der Zwangsbewirtschaftung waren sie aber kaum verfügbar.

In einem Bericht vor dem Kreistag am 2. Juli 1947 beklagt der Leiter des Wirtschafts- und Ernährungsamtes die Mängel in der Kartoffelversorgung. „Sie bildet den größten Engpass. Die Belieferung der Gaststätten und Heime und der noch nicht eingelösten Kartoffelmarken ist unmöglich."

Auch mehrmalige Vorsprachen beim Kartoffelwirtschaftsverband haben nichts gebracht, so der Beamte. „Die Mittags- und Abendverpflegung des Arbeiters besteht nur aus einem Teller Wassersuppe und ein paar Löffeln Gemüse. Die Erschöpfungserscheinungen nehmen deshalb von Tag zu Tag zu." Einzige Hoffnung sei die neue Ernte im Herbst.

Aber auch die ist in Gefahr. Laut eines Berichts von Landrat Willy Thieme ist „die Kartoffelkäfergefahr im Zunehmen begriffen". Vor allem in Schäftlarn, Ascholding und Straßlach seien bereits größere „Befallstellen" mit mehreren hundert Käfern und ihren Larven festgestellt worden. In den Gemeinden Oberbiberg, Deining, Osterhofen und Egling ist der Kartoffelschädling ebenfalls schon entdeckt worden.

Für Thieme ist all dies all dies auf ein Versagen des Suchsdiensts zurückzuführen, für den Arbeitslose und komplette Schulklassen zwangsverpflichtet werden. „Er funktioniert in keiner Weise. Weite Bevölkerungskreise sind uninteressiert." Behördliche Anordnungen würden nicht beachtet, klagt der Landrat: „Die Gefahrenlage, die durch das Anwachsen der Kartoffelkäfer gegeben ist, wird völlig verkannt und zum Teil auch bösartig nicht beachtet."

Der Landrat appelliert an die Bürgermeister, „auf die Durchführung des Suchdiensts größeren Nachdruck zugeben".  Gegen Verweigerer soll „mit den im Gesetz vorgeschriebenen Strafen vorgegangen" werden. Die Bekämpfung des Schädlings ist zwar einfach, aber mühsam. Die Käfer müssen von den Kartoffelpflanzen abgesammelt und dann zwischen zwei Fingern zerdrückt werden.



Ernteausfälle drohen

Die katastrophale Ernährungssituation im Landkreis Wolfratshausen ist am 15. November 1947 Thema einer Sondersitzung des Kreistags im Wolfratshauser Kino. Nach mahnenden und kritischen Worten des amerikanischen Befehlshabers, Captain Bird,  veranschaulichen Berichterstatter der Ernährungsämter die Situation. Den Anfang macht der ehrenamtliche Leiter des Ernährungsamts A.

„Panikstimmung" sei nicht angebracht, versucht Roth die Kreisräte zu beruhigen. Seine Zahlen strafen ihn indes Lüge. So sollen die Bauern bei einer Gesamtanbaufläche von 880 Hektar im Landkreis im Jahr 1947, gemäß staatlicher Verordnung, 5580 Tonnen Lebensmittel zur behördlichen Verteilung abliefern, nach 3000 Tonnen im Vorjahr. „Dieses Soll ist einfach unerfüllbar" stellt Roth fest.

Bei Überprüfungen der Bauernhöfe wurden gerade einmal zusätzlich 400 Tonnen Lebensmittel erfasst, eine weitere Nachkontrolle sei geplant. „Jeder überzählige Zentner muss erfasst werden. Lediglich Saatgut und Selbstversorgerbedarf haben am Hof zu verbleiben."

Immerhin ist die Kartoffelversorgung für den Landkreis im Winter 1947/48 zu 90 Prozent gesichert. Kritisch ist die Lage nicht zuletzt durch Ernteausfälle im Sommer 1947. Allein bei Gemüse werden sie auf 40 bis 50 Prozent geschätzt. Trotzdem kann die Wintereinlagerung für Krankenhäuser, Alters- und Kinderheime „restlos durchgeführt werden".

Pro Kopf und Woche stehen 1000 Gramm Gemüse zur Verfügung. Den Gaststätten werden 250 Gramm pro Essensportion zugewiesen. An Obst werden dem Landkreis 505 Zentner geliefert, teils von minderer Qualität, außerdem werden 3055 Flaschen Apfelsaft verteilt - bei einer Einwohnerzahl von knapp 40 000 Menschen.

Abwärts geht es auch mit der Milchwirtschaft: Wurden im Kriegsjahr 1944 im Landkreis noch 27 Millionen Liter abgeliefert, so sind es zwei Jahre später nur noch 20 Millionen Liter - bei durch Flüchtlinge stark gestiegener Bevölkerungszahl. Allein in den ersten drei Monaten 1947 beträgt der Rückgang nochmals 30 Prozent, bedingt auch, so Roth, „durch erhöhten Milchverbrauch bei den Bauern".

Zudem fehlen landwirtschaftliche Geräte. Schlachtvieh darf nur innerhalb des Landkreises verbraucht werden. Durch Viehseuchen und andere Krankheiten ist allerdings die Zahl der Notschlachtungen von üblichen 35 Prozent auf 85 Prozent angestiegen. Da hier unkorrektes Handeln der Bauern vermutet wird, hat Roth die Regelung erlassen, dass sie nur in Ausnahmefällen aufs Ablieferungssoll angerechnet wird.




Fahren verboten!

Am Sonntag werden Autofahrer kontrolliert

Die Unrechtsjustiz des Dritten Reichs ist den US-Militärbehörden wohl noch in schlechter Erinnerung, als sie zum 30. November 1946 das Gesetz Nr. 57 erlassen. Dieses setzt das Polizeiverfügungsgesetz von 1938 außer Kraft und stellt die ohnehin personell unterbesetzten Justizbehörden vor schier unlösbare Probleme. Referatsleiter Dr. Ederer berichtet darüber am 2. Juli 1947 dem Kreistag.

Das neue Gesetz besagt, dass die Polizeibehörden selbsttätig keine Geldbußen oder andere Sanktionen verhängen dürfen, sondern bei jedem (noch so geringen) Gesetzesverstoß ein öffentliches Gerichtsverfahren durchgeführt werden muss. Laut Ederer resultiert daraus „eine ungeheure Mehrbelastung des Amtsgerichts" und auch von Polizei und  Landratsamt.

„Die Polizei meldet den Verstoß dem Landratsamt, dieses hat das Beweismaterial zu sichern und die Anzeige an das Amtsgericht weiterzuleiten mit gleichzeitigem Strafantrag und Vorschlag des Strafausmaßes."

Auch die Beschuldigten werden unnötig belastet, meint Ederer. Es sei nicht zu übersehen, „dass die durch die Arbeitsüberhäufung der Gerichte bedingte Hinausschiebung der Strafe für den Delinquenten eine psychische Belastung darstellt". Zudem bestehe die Gefahr der Verjährung, da womöglich Meldungen bei der Polizei liegenblieben oder auf dem Postweg verloren gingen.

Als Gesetzesverstöße werden 1946/47 Vorfälle eingestuft, die heutzutage nicht einmal ein Achselzucken bei der Polizei hervorrufen würden: So muss jeder Autofahrer ein Fahrtenbuch führen, in das jede Fahrt eingetragen wird. Auch den Tankausweis müssen Autofahrer immer dabei haben. Samstag, ab 18 Uhr, und am Sonntag sind Privatfahrten ohnehin verboten.

Wie Ludwig Kollmeier, Chef des Straßenverkehrsreferats, berichtet, unterliegt gerade das Sonntags-Fahrverbot scharfen Kontrollen. Bei Verstößen wird das Fahrzeug zwangsweise stillgelegt, und es erfolgt eine Anzeige. Wie sich bei Kontrollen herausgestellt hat, werden die Fahrtenbücher allgemein "schlampig" geführt. Beanstandungen werden außer mit einer Anzeige auch mit Treibstoffentzug bestraft.

Kollmeier: „Im Interesse jeden einzelnen Fahrers und für eine bessere Überprüfung des Treibstoffverbrauchs wurde dauernd aufklärend gewirkt, der Erfolg ist leider unbefriedigend."

Referatsleiter Ederer fordert eine Änderung des Gesetzes Nr. 57. „Der ganze Apparat erscheint im Verhältnis zu den oft sehr geringfügigen Verstößen zu groß." Der Zeitaufwand sei schleppend und wirkungsaufhebend: „Für diese Fälle wäre ein Schnellgericht nach amerikanischem Muster zu empfehlen, welches die Vorteile der durch die Schnelligkeit garantierten Durchschlagskraft bringen und vor allem sämtliche Behörden entlasten würde."


Schwarzhandel vom Staat geduldet?

Ein Jahr später sind die Probleme immer noch die gleichen: Egal, wie es in Deutschland aussieht, ob Hunger herrscht oder Überfluss, Krieg oder Frieden - eins funktioniert immer: Die Bürokratie. Selbst 1947/48, als im Landkreis schlimme Not herrscht, erstickt die Bürokratie so manche sinnvolle Maßnahme.

Der Leiter des Gewerbeamts findet in seinem Jahresbericht für den Kreistag am 30. Januar 1948 viele Beispiele für den wiehernden Amtsschimmel; etwa in der Justiz: „Während früher Übertretungen geringfügiger Art mit gebührenpflichtigen Verwarnungen an Ort und Stelle abgetan wurden, ist jetzt die Polizei gehalten, selbst bei kleinen Vorfällen eine Strafanzeige zu erstatten." Das hat natürlich Folgen.

Wird ein Radfahrer auf der Reichsautobahn erwischt (das gab's wirklich, d. Red.), dann müssen neun oder zehn Behörden, vom Amtsanwalt bis zur Gemeinde, eingeschaltet werden. „Schließlich bezahlt der Übertreter fünf Reichsmark Strafe."

Der Berichtserstatter: „Abgesehen von der aufgewendeten Zeit wird schon mehr an Briefmarkenporto verbraucht, als die Geldbuße beträgt." Als Folge der Überlastung der Amtsgerichte mit Kleinanzeigen sind Ende 1947 rund 50 000 Strafanzeigen unbearbeitet.

„Straftaten, an deren Verfolgung ein öffentliches Interesse besteht, kommen monate-, ja jahrelang nicht zur Aburteilung. Eine Strafamnestie fährt dann schließlich die Straftaten mittleren Ausmaßes unter den Tisch."

Dazu sind die Strafbestimmungen gegen Schwarzhändler äußerst ungenügend, „da bei Abfassung dieser Gesetze die Tatbestände des Schwarzhandels und des Schiebens noch nicht gegeben waren". Nach Meinung des Gewerbeamts fordert darum die Öffentlichkeit mit Recht, „daß seitens der Staatsregierung eindeutige Gesetze geschaffen werden".

Damit nicht genug der Klagen: „Der aufgeblähte Verwaltungsapparat in den mittleren und oberen Instanzen" verhindere selbst den Vollzug bestehender Gesetze: „Anträge auf polizeiliche Schließungen von Betrieben wegen Schwarz-handels liegen zuweilen über ein Jahr bei den Mittelinstanzen. Die Schwarzhandelsbetriebe können so ungehindert und anscheinend staatlich geduldet ihr Unwesen weitertreiben."

Ein Ausweg aus der Misere wird nur dadurch gesehen, dass auch die Landratsämter gegen Schieberei vorgehen dürfen: „Der noch anständig denkende Geschäftsmann muss entscheidenden Einfluss gewinnen. Das. Schlechte muss  ausgemerzt und das Gute in jeder Weise gefördert werden."




Captain Birds Appell

Besatzungsmacht leistet Hilfe zur Selbsthilfe

„Sie können sich selbst helfen. Sie müssen sich auch selbst helfen." Mit diesen Worten beendete der Chef der amerikanischen Militärregierung in Wolfratshausen, Captain Bird, am 15. November 1947 seine Ansprache vor dem Kreistag.

Landrat Willy Thieme hatte zu dieser außerordentlichen Sitzung im Kino in der Bahnhofstraße auch Behördenvertreter, Lehrer sowie die Leiter der Arbeiter-, Handwerks- und Gewerbeverbände einberufen: Die katastrophale Ernährungslage ließ für den bevorstehenden Winter das Schlimmste befürchten.

Die Rede von Captain Bird verdient es, in Auszügen zitiert zu werden. Ungeschminkt, ohne Pathos beleuchtet er die Situation in Deutschland und im Landkreis Wolfratshausen und stellt die Probleme in einen globalen Zusammenhang: „Es ist mir kein Geheimnis, dass Deutschland sehr sehr knapp an Lebensmitteln ist. Jede Besatzungsmacht steht diesem Problem gegenüber.

Und dieses Problem ist mehr das Ihre als das unsere. Ich würde aber gerne wissen, ob Sie sich alle bewusst sind, dass nicht nur Deutschland heute hungert. Wissen Sie, dass jedes Land auf der Welt heute an einer Lebensmittelknappheit leidet. Deshalb wollen wir jetzt aufhören, immer nur uns selbst zu bemitleiden und lieber etwas beginnen."

Bird zählt Länder auf, denen es 1947 noch schlechter geht als Deutschland: Japan, Korea, Indien, Vorderasien oder auch China, wo seit 20 Jahren Krieg herrscht. „Wie würde Ihnen das gefallen?" Lediglich die USA und Kanada, so der Offizier, verfügten noch über Nahrungs-Reserven. „Nicht nur Deutschland fragt nach Lebensmitteln und erhält Lebensmittel, sondern die ganze Welt. Meine Herren, es gibt eine Grenze."

Die liegt zu diesem Zeitpunkt bei 20 Prozent: So hoch nämlich ist der Anteil der amerikanischen Hilfslieferungen am deutschen Verbrauch von Nahrungsmitteln.

Zwei Monate ist Captain Bird zum Zeitpunkt seiner Ansprache in Wolfratshausen stationiert, „ich fange beinahe an,
mich als Einheimischer zu fühlen". Als solcher hat Bird auch die Probleme vor Ort kennengelernt: „Das Verhalten des durchschnittlichen Deutschen ist, dass er sich über den Schwarzmarkt beklagt. Und jeder von Ihnen weiß, dass beträchtliche Mengen von Lebensmitteln in den Schwarzmarkt gehen, die eigentlich normal an das Ernährungsamt abgeliefert werden sollten.

Aber alles, was Sie tun ist, dass sie über die schlechten Zeiten klagen und da verfluchen Sie den Schwarzmarkt zwischen sich und unter sich, und beklagen sich, dass Sie Schwarzmarkt treiben müssen, um zu leben. Auf der einen Seite beklagen Sie den Schwarzmarkt, auf der anderen Seite unterstützen Sie ihn. Das kann nicht so weitergehen."

Die eigentlichen Feinde sind nach Ansicht des US-Offiziers die Bauern, die Kaufleute und die Industriebesitzer, die trotz der Notzeit nicht alles abliefern, was sie eigentlich abliefern müssen. Bird zitiert einen Ausspruch des amerikanischen Generals Clay, „der sehr gut hierher passt".

Clay sagte: „Ein Staat muss immer stark sein, um zu sehen, dass die eigenen Gesetze durchgeführt werden. Sie haben sehr strenge Gesetze gegen den Schwarzmarkt, und auf Schwarzmarkt stehen sehr strenge Strafen, aber diese Gesetze sind nichts wert, wenn Sie diese Gesetze nicht erzwingen."

Eine Kette sei immer nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Bird: „Überlegen Sie sich einmal: Sind Sie, jeder einzelne von Ihnen, vielleicht das schwächste Glied?"


Absage ans Selbstmitleid


Stark erschüttert'' sei er von den Worten des Chefs der Militärregierung, sagte Kreisrat Graf Pocci (Ammerland) nach dessen Rede. Aber: „Es ist uns vom Jahre 1933 an alles mögliche versprochen und nichts gehalten worden, und es erweckt den Anschein, als ginge es in derselben Weise weiter."

Resigniert klangen die Worte Poccis. Die Appelle zur Selbsthilfe in der Rede von Captain Bird weckten bei den Zuhörern keine neuen Hoffnungen. „Fahren Sie immer fort, sich selbst zu bemitleiden?" Captain Bird stellt den Kreisräten immer wieder dieselbe Frage.

Er provoziert und fordert die Kommunalpolitiker heraus: „Keiner von Ihnen sieht eigentlich aus, als ob er hungern müsste. Wenn ich die Hand ausstrecke, dann zeigt jeder Finger auf einen Mann, der bestimmt mehr wiegt als ich, und das ist eine Tatsache, meine Herren. Sie müssen anfangen, sich nun selber zu helfen. Sie können nicht erwarten, dass Sie immer weiter gefüttert werden."

Bird vergisst nicht zu erwähnen, dass es im Sommer 1947 eine große Trockenheit in Deutschland gegeben hatte, die „einen großen Teil der Ernte vernichtete". Davon aber seien auch andere Länder betroffen gewesen: In den USA sei fast
die gesamte Maisernte vertrocknet. Bird: „Ich bin nicht hier und rede aus Stolz für mein Land, sondern ich bin hier, um Ihnen Tatsachen zu sagen."

Ein genauer Ablieferungsplan für Lebensmittel sei von der Militärregierung festgesetzt und durch den Kreistag bestätigt worden: „40 Prozent des Ablieferungssolls für Brotgetreide hätte Ende Oktober erfüllt sein sollen und 60 Prozent des Kartoffel-Ablieferungssolls sollte eigentlich Ende Oktober erfüllt sein."

Um diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen, um die Bauern zu zwingen, die Abgabemengen einzuhalten, stehe den Bürgermeistern das Kontrollratsgesetz Nr. 45 zur Verfügung. Es werde nicht genutzt, stattdessen floriere der Schwarzmarkt, beklagt Bird.

„Ich werde jeden Bürgermeister auffordern, mir einen Bericht zu erstatten. Ihr erster Bericht sollte eigentlich heute (Samstag, d. Red.) bei mir einlaufen, ich gebe Ihnen aber Zeit bis Mittwoch." Der Offizier fordert präzise Informationen über die landwirtschaftlichen Erzeugnisse, die zur Verteilung an die Bevölkerung abgeliefert wurden, über Weizen, Roggen, Hafer, Gerste und natürlich Kartoffeln.

Selbst Landrat Thieme ist von der Rede Birds beeindruckt. „Diesen ungeschminkten Ausführungen ist nichts hinzuzufügen." Wegen des Klagens und Jammern in der Bevölkerung, weist Thieme darauf hin, „dass eben die tragische Seite des Lebens leicht anzuerziehen ist. während Beschwingtheit und Heiterkeit dem Menschen in die Wiege gegeben sein muß". Thieme weiter: „Wir haben schwere und harte Zeiten hinter uns und vor uns, so dass es entschuldbar ist, das tägliche Leid immer wieder zu berühren."




Hungersnot droht

Lebensmittel-Mangel immer bedrohlicher

Keine Schuhe, keine Kleidung und auch an Kohle, Tabak und Seife fehlt es. Der größte Mangel aber herrscht im Winter 1947/48 bei den Lebensmitteln, die es, wie alles andere auch, nur gegen Zuteilungskarten gibt, weshalb Landrat Thieme alle politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen im Landkreis für 19. November 1947 zur Kreistagssitzung ins Wolfratshauser Kino eingeladen hat. Am anschaulichsten macht die Situation ein unbekannter Bürger, der am Tor des Nantweiner Friedhofs ein Schild anbringt: „Eingang zur 100. Kartenperiode".

Auf sieben eng beschriebenen Schreibmaschinenseiten beleuchtet das Wirtschaftsamt Wolfratshausen die schwierige Versorgungslage. Die Wirtschaft liegt auch infolge von Rohstoffmangel brach, für 1948 ist schon erkennbar, daß die Schuhproduktion in Deutschland „aufgrund der anhaltenden Stromsperren und der Kohlennot wieder ins Absinken gerät".

Eine Verbesserung sei nur zu erwarten, wenn Schuhe auch aus dem Ausland eingeführt werden dürfen. Der Importanteil betrug vor dem Krieg bei Rohware bereits 50 Prozent.

Die erwartete Ankurbelung der Produktion durch erhöhte Viehschlachtungen ist laut Bericht nicht eingetreten. Auch der Bedarf an Textilien zur Schuhherstellung ist nur zu zwölf Prozent gedeckt. Leidtragende sind vor allem Kinder: „Bei Eintritt des Winters wird in unserem Landkreis der Engpass in der Fabrikation der Kinderschuhe zur Katastrophe führen."

Dies seit darauf zurückzuführen, dass gerade Kinder aus „entlegenen Ortschaften" die Schule nur zu Fuß und auf schlechten Wegen erreichen können.

Auch die „Lage in Textilien verschlechtert sich von Monat zu Monat". Problem hierbei ist allerdings, dass Fabrikanten und Großhändler die Ware horten - bis zur angekündigten Währungsreform.

Die Verteilung an die Bürger erfolgt nach einem Punktesystem. Drei Punkte stehen jedem einzelnen Bürger im vierten Halbjahr 1947 zu: Damit müsste er auf ein Herrenhemd zwei, auf einen Wintermantel zwölf und auf ein komplettes Bett 36 Jahre warten. Drei Punkte entsprechen einem Kopfschützer oder einem Taschentuch. Säuglingswäsche sowie Bettwasche für Kinder und Erwachsene gibt es überhaupt nicht.

Wie gering auch die Lebensmittelzuteilungen sind, belegt ein Vergleich des Ernährungsamts. Im Dezember 1945, also gut ein halbes Jahr nach Kriegsende, bekommt der „Normalverbraucher" 400 Gramm Fett, 800 Gramm Fleisch und 3 1/2 Liter entrahmte Frischmilch zugeteilt.

Zwei Jahre später sind es noch 50 Gramm Fett, 400 Gramm Fleisch und ein Liter Milch - für einen ganzen Monat wohlgemerkt. Durften 1945/46 noch drei Zentner Kartoffeln eingelagert werden, so war es 1947/48 nur noch ein Zentner - zum Sterben zuviel, zum Leben zu wenig, wie's treffend heißt.



Not gefährdet die junge Demokratie

Wer trägt die Schuld am Hunger, der im Winter 1947/48 stärker als je zuvor die Menschen im Landkreis Wolfratshausen peinigt? Die Behörden, die die Lebensmittel nicht gerecht verteilen? Die Bauern, die ihr Soll nicht erfüllen und stattdessen den Schwarzmarkt bedienen? Oder die Menschen selber, die nicht bereit oder fähig sind, ihre Probleme zu bewältigen?

Eine passende Antwort darauf finden in der Kreistagssitzung am 15. November 1947 weder Kreisrat Graf Pocci (Wiederaufbauvereinigung) noch dessen CSU-Kollege Andreas Paul Schmidt.

Pocci, ein Kreisrat, der sich häufig zu Wort meldet, sieht die Schuld im System: „Wenn man in eine Maschine oben nichts rein gibt, kann unten nichts herauslaufen." Der Kreisrat aus Ammerland, Mitglied des Bunds der Heimatvertriebenen
und Entrechteten (BHE), äußert sogar Verständnis für die Bauern, die, statt ihre Produkte an die staatlichen Stellen abzuliefern, lieber den illegalen Markt bedienen.

Dorthin auszuweichen müsse der Bauer schon, um die „abnormal hohen Steuern bezahlen zu können". Außerdem: „Man darf den kolossalen Preisunterschied zwischen einem Liter Milch und einem Liter Bier nicht vergessen."

Die katastrophale Lage kann nach Poccis Meinung sogar zu einer Gefahr für die „junge Demokratie" werden: „Es ist ihr nicht zuträglich, wenn immer nur Versprechungen von allen Seiten gemacht werden, die nicht eingehalten werden." Dasselbe Verfahren habe es ab 1933 auch in der Diktatur gegeben. Pocci pathetisch: „Es geht nicht nur um unseren Kreis,
es geht um unser ganzes Land Bayern, um unser Vaterland."

CSU-Vertreter Schmidt appelliert an die Versammlung, sich „dem Ernst der Lage nicht zu verschließen": „Möchte ein gütiges Geschick geben, dass wir diesen vor uns stehenden, wohl schrecklichsten Winter überstehen und unser Leben und unsere Familie durchbringen."

Schmidt beschreibt auch die Machtlosigkeit des Kreistags, die Ernährungslage zu ändern: „Zur Zeit bekommt ein Normalverbraucher (Schwerarbeiter, Kranke und so weiter erhielten „Zuschläge", d. Red.) in vier Wochen nur einen Liter Magermilch. Was uns fehlt, das wissen wir. Aber wir können nichts tun, weil uns Mittel und Wege fehlen."

Schmidt nimmt in seiner Rede die Bauern in Schutz und weist daraufhin, dass die meiste Butter, die auf dem Schwarzmarkt erhältlich ist, „in Papier der Molkereien eingewickelt ist". Er fordert eine Resolution, um „dem Schiebertum und dem Schwarzhandel ordentlich an die Gurgel zu gehen".

Mit seiner nächsten Äußerung handelt sich Schmidt allerdings einigen Ärger ein: „Wir wissen, dass wir hier nicht weit von Wolfratshausen entfernt große Siedlungen und Lager haben und dass da vieles, vieles verbraucht oder auch verschoben wird, und wir haben es nicht in der Hand und unsere Polizei ist nicht in der Lage, dagegen einzuschreiten." Schmidt spricht vom Lager Föhrenwald, in dem die UNRRA, die UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA bis zu 6000 heimatlose Juden untergebracht hat.

Landrat Willy Thieme versucht die umstrittenen Äußerungen ins Lot zu rücken. Laut Polizei sei an den Schwarzmarktgeschäften „nur ein gewisser Prozentsatz Ausländer beteiligt", auch „in unseren Reihen finden sich sehr viele zweifelhafte Elemente". Der Schwarzmarkt funktioniere nur, wenn mindestens einer der beiden Partner Deutscher sei. Fünf Tage später entschuldigt sich Andreas Paul Schmidt für die Äußerungen, „durch die sich andere vielleicht betroffen fühlen könnten".



Kesseltreiben gegen den Bauernstand

Rund 400 Landkreis-Bürger diskutieren in der Kreistagssitzung am 15. November 1947 über Auswege aus der drohenden Hungersnot. Zu den entscheidenden Personen gehören die Bauern als Lebensmittelproduzenten. Der Vorsitzende der Bezirksbauernkammer und spätere Bundestagsabgeordnete Josef Eichner, Jasberg, verliest eine Resolution, die mehrfach von Beifall unterbrochen und schließlich an das Landwirtschaftsministenum weitergereicht wird.

Besonderes Augenmerk findet Absatz B der Erklärung: „Ausmerzung von Nutznießern im eigenen Stand." Man nehme, so heißt es dort, „keinen Bauernbetrieb irgendwie in Schutz, der sich bei der Ablieferung von Kartoffeln, Getreide, Milch und anderen Produkten in deutlich nachweisbarem Rückstand befindet".

Im Gegenteil: Gefordert wird eine harte Bestrafung durch eine Art Sondergericht auf Bezirksebene - nicht um Geldbußen soll es gehen, sondern um die „Aberkennung der Wirtschaftsfähigkeit, Entzug der Betriebsleitung, Zwangsverpachtung und Bodenwegnahme".

Im Gegenzug fordert die Landwirtschaft allerdings ein Ende des „systematischen und generellen Kesseltreibens (...) gegen den Bauernstand" und protestiert gegen die „Lügen", wonach allein die Landwirte „am Schwarzhandel, am Nichtfunktionieren der Wirtschaft, am Elend der Städte schuld" sei.

Außerdem verlangen Eichner und seine Mitstreiter, das der „angeschwollene Verwaltungsapparat" der Ernährungsämter abgebaut und die staatliche Bewirtschaftung in Bereichen abgeschafft wird, wo sie überflüssig geworden ist. Laut Bauernkammer gehe in manchen Sparten bis zu 90 Prozent der Produktion in den Schwarzhandel.


Selbst die Kühe leiden Hunger Drei Monate nach dieser Kreistags-Sitzung, am 30. Januar 1948; jagt eine Hiobsbotschaft die andere -gleich, um welches Thema es geht. Zu allem Überfluss haben auch die Bauern zu kämpfen, mit Missernten und Viehkrankheiten, wie das Veterinäramt berichtet.

Als „Hungerjahr für unsere Tiere" bezeichnet Amtsleiter Ebersberger das Jahr 1947: „Eine schon im Frühjahr einsetzende Trockenheit, mit einer nachfolgenden bis in den Herbst anhaltenden Dürre, ging über das ganze Land und verursachte katastrophale Schäden."

Der Grundwasserspiegel sinkt so tief, dass auf vielen Höfen das Wasser für den Stall kilometerweit aus stehenden Gewässern, Weihern und Flüssen in Jauchefässern geholt werden muss. „Ein Umstand, der auch nicht günstig auf die Gesundheit der Tiere einwirken konnte", so der Amtsleiter.

Die ungünstige Witterung schadet natürlich auch der Ernte: Heu und Grummet gibt's wenig, und der karge Ertrag ist
von schlechter Qualität, weitgehend verholzt. „Auch die Herbstweiden, die das Futter für den Winter sparen sollten, waren völlig ausgetrocknet und dürr, so dass schon in diesen Wochen der wenige Futtervorrat verwendet werden mußte."

Die Folge: Der Viehbestand muss zu Beginn des Winters verringert werden - und das in einer Zeit, in der landesweit eine Hungersnot droht. Die schlechte Futterqualität zeigt sofort Wirkung: „Milch- und Fettleistung gingen in erschrek-kendem Maße zurück. Not-und Krankschlachtungen mehrten sich in einem noch nie dagewesenen Maße." Die Kühe bekamen Tuberkulose und Wassersucht, zudem wurden bei den notgeschlachteten Tieren Fremdkörper gefunden.

Ebersberger: „Ich führe das auf den Umstand zurück, dass bei dem Mangel an Futter der Rest am Scheunenboden zusammengekehrt und als Futter den Tieren verabreicht wurde." Hungernde Tiere verschlucken Rüben und Kartoffeln im ganzen.

Falschgewählte Gegenmaßnahmen taten das Übrige: „So genannte Sachverständige stießen den Fremdkörper mit dem Schlundrohr gewaltsam in den Magen, wobei der Schlund durchstoßen und die Notschlachtung veranlasst wurde."

Die Tiere mussten lange leiden. Wegen Überlastung kann der Tierarzt oft erst nach Tagen auf den Hof kommen. Auch der Gesundheitszustand der im Landkreis gehaltenen Schweine ist vielfach erbärmlich: Die Tiere leiden an Spulwürmern, an Rachitis, an Rotlauf und Ferkelgrippe.

Einzige positive Nachricht des Amtstierarztes: „Der Bezirk ist glücklicherweise frei von anzeigepflichtigen Seuchen geblieben. Der Ausbruch der Maul- und Klauenseuche hätte eine unabsehbare Katastrophe herbeigeführt."




Beamte angegriffen

Landrat stellt sich vor Mitarbeiter

Schwarzhandel, Bestechung, eine überforderte Justiz, eine heftig kritisierte Verwaltung - manches in den Berichten aus der Sitzung des Wolfratshauser Kreistags am 15. November 1947 erinnert an Zustände in einer Bananenrepublik.

Landrat Willy Thieme stellt sich allerdings ausdrücklich vor seine Mitarbeiter und findet die Schuldigen für die Misere auf anderer, auf höherer Ebene. Die Mitarbeiter der Kreisbehörde „werden beleidigt, bedroht und sogar tätlich angegriffen", klagt Thieme. „Dieser Zustand kann nicht weiter geduldet werden."

Mehr als andere Berufsgruppen erfülle der Öffentliche Dienst die „harte Pflicht mit bescheidener Besoldung". In vielen Handwerkssparten, so der Landrat, „wird nur noch gearbeitet, wenn zum Lohn zusätzliche Vergünstigungen in Lebensmitteln, Zigaretten und anderen Dingen des täglichen Bedarfs gewährt werden. Dieses Verlangen wird schon fast für in Ord¬nung befunden".

Solche Extravaganzen hätten die Mitarbeiter des Landratsamts und der Gemeinden nicht zu erwarten, im Gegenteil: Sie seien gehalten, sie als Bestechungsversuch zu melden. „Es trifft sie deshalb der leichtfertige Vorwurf des überreizten Publikums doppelt zu Unrecht, wenn sie nicht wie Weihnachtsmänner die Wünsche der Antragsteller befriedigen können
und dadurch unberechtigte Kritik heraufbeschwören." So werde sich bald niemand mehr finden, der in der Öffentlichen Verwaltung tätig sein will.

An die Kreisräte appelliert Thieme, die Bevölkerung über die schwierige Arbeit der Behörden aufzuklären: „Wir werden in Zukunft alle diejenigen, die so vorschnell mit einem abfälligen Urteil zur Hand sind, etwas genauer unter die Lupe  nehmen, und ich getraue mir schon jetzt zu sagen, dass es Menschen sind, die heute mit dem Schlagwort Demokratie operieren, während ihnen von gestern her noch der Arm vom zackigen Deutschen Gruß schmerzt."

Thieme liefert im selben Vortrag auch noch ein Beispiel für das Versagen der staatlichen Stellen: „Alle unsere Bemühungen im Landkreis, das Räderwerk der Gutgesinnten in Bewegung zu halten, müssen scheitern, wenn an höchster Stelle das unsoziale Verhalten weiter Bevölkerungskreise nur debattiert und gegeißelt wird, aber ein entscheidendes Gesetz gegen die totengräberischen Manieren der Schwarzhändler, Großschieber und zersetzenden Kräfte nicht geschaffen wird."

Zur Verantwortung gezogen würden nur „kleine arme Sünder". Für die Verfolgung der großen Fälle fehle es an Personal und Zeit. Und wenn dann mal jemand gefasst wird, dann versagt die Justiz, so Thieme, der ein Beispiel aus Wolfratshausen anführt:

Eine fünfköpfige Familie bezog ein Jahr lang zu Unrecht doppelte Lebensmittelkarten in Wolfratshausen und in der britischen Zone. Das Gericht erkannte auf vier Wochen Gefängnis, der Angeklagte erhob Einspruch: „Das Urteil liegt nun schon sechs Monate zurück, noch immer läuft der Sünder ungestraft herum, ja versteht es, weiterhin mit dreister Stirn Ungesetzmäßigkeiten zu begehen."




Gute Zusammenarbeit

Captain Bird zieht eine Bilanz

Wenn der Wolfratshauser US-Statthalter Captain Bird spricht, dann herrscht Ruhe, dann gibt es keine Widerworte. Aus heutiger Sicht etwas seltsam muten die Machtstrukturen im Landkreis Wolfratshausen anno 1947/48 an.

Das Wort des Landrats Willy Thieme gilt wenig, jedenfalls dann, wenn Bird etwas sagt. Und dieser äußert sich vorzugsweise vor dem Kreistag, um den Kommunalpolitikern Demokratie beizubringen.

Wie sich Landrat Thieme und Captain Bird tatsächlich vertragen haben, das geht aus den Kreistagsprotokollen von 1947/48 nicht hervor. Thieme jedenfalls behandelt den US-Offizier mit ausgesuchtem Respekt. Am 30. Januar 1948, zwei Monate, nachdem Bird die Kreisräte ob ihrer Klagen über den drohenden Hunger abgewatscht hatte, rühmt der Landrat vor dem Kreistag die Besatzungsmacht. Sie sei „im verflossenen Jahr mit großem Interesse und Hilfsbereitschaft unserer Arbeit entgegengekommen".

Captain Bird bekommt ein Sonderlob Thiemes: „Aus all seinen Empfehlungen, die er unserem Amte gibt, ist eine aufrichtige Herzlichkeit für unser Streben und eine menschliche Anteilnahme an unserem Geschick spürbar." Bird habe weit mehr geleistet, „als er nach seinem Reglement vielleicht verpflichtet gewesen ist".

Dabei gibt es immer wieder Reibungen zwischen der Militärregierung und den deutschen Behörden, vor allem wegen des Lagers Föhrenwald (heute Waldram, d. Red.), in dem die UN-Flüchtlingsorganisation UNRRA heimatlose Juden vor ihrem Weitertransport nach Palästina unterbringt. „Die Beziehungen zur UNRRA waren auch im vergangenen Jahr sehr gut",  berichtet Thieme dem Kreistag. Und: „Es hat sich zwischen der Lagerverwaltung Föhrenwald und dem Landratsamt immer ein gangbarer Weg zur Lösung schwieriger Fragen gefunden."

(In Wirklichkeit spricht Thieme von „Problemen", verbessert das Wort aber handschriftlich in „Fragen", um den Militärs nicht auf die Füße zu treten.)

So handsam verhält sich Bird nicht. Er geht in seiner Ansprache mit einigen Kreisräten hart ins Gericht.



Gerechtigkeit für Flüchtlinge

Die Hinführung der Deutschen zur Demokratie ist eine der Hauptaufgaben, die sich die Besatzungsmächte nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs selbst auferlegt hat. Manche Besatzungsoffiziere widmen sich diesem Thema stärker, andere weniger. Captain Bird nimmt die politische Erziehung sehr ernst. Er spricht am 30. Januar 1948 zum Kreistag.

„Meine Herren, heute morgen möchte ich Ihnen erst einmal ein paar Ratschläge erteilen", so leitet Captain Bird seine Ansprache ein - und alle sind aufmerksam. Seine Ratschläge betreffen den Umgang mit den Neubürgern im Landkreis, den Ausgewiesenen und Flüchtlingen - zwei Begriffe, die Bird „nicht liebt", denn „diese Leute sind Deutsche, wie sie alle hier auch".

Der Direktor der Militärregierung lobt die Eingliederungspolitik von Landrat Willy Thieme und dessen Mitarbeitern. Der Landkreis habe gezeigt, „dass er den Problemen in der heutigen Zeit verständnisvoller gegenüber steht, als der Rest des durchschnittlichen Bayerns". Aber: „Ich muss leider sagen, dass es einige Leute im Kreis gibt, und zwar Leute, die in leitenden Positionen stehen, die diese Einsicht nicht haben. Glücklicherweise bilden diese Leute eine Minderheit in der Bevölkerung."

Streitpunkt ist die künftige Nutzung der einstigen Rüstungswerke der Dynamit AG (DAG, heute Gartenberg) und der Deutschen Spreng-Chemie (DSC, heute Geretsried-Süd). Ausgerechnet in Gegenwart des US-Offiziers hat ein namentlich nicht genannter Bürgermeister die Frage gestellt: „Warum sollen wir so viel Geld, in die DAG und DSC stecken, wenn vielleicht in ein paar Jahren diese Leute sowieso wieder in ihre Heimat zurückgehen?"

Bird ist über diese Äußerung stinksauer: „Wo ist denn deren Zuhause? Meine Herren, deren Zuhause ist hier im Landkreis. Und je eher sich dieser betreffende Bürgermeister das vor Augen hält und das versteht, umso besser wird es seiner Gemeinde gehen."

Das Geld für die Flüchtlinge sei „bestimmt nicht weggeworfen". Kritiker der Programme für DAG und DSC sollten sich vor Augen führen, warum die Flüchtlinge zu Flüchtlingen wurden: „Deshalb, weil sie nicht so leben wollten, wie die anderen Leute, wie die, die sie aus ihrer Heimat vertrieben haben."

Wolfratshausen habe durch die Vertriebenen nur Vorteile, so Bird: „Diese Leute waren nämlich die Klardenkendsten, die regsamsten und fleißigsten Personen in ihrer Heimat." Mit ihrem Wissen würden sie den Landkreis Wolfratshausen weiter voranbringen. „Durch die Anstrengungen dieser Leute wird sich der Industriewert des Landkreises Wolfratshausen um einige Male vergrößern und auch Ihre Bauernhöfe werden durch die Gedanken dieser Leute Nutzen ziehen."

Nach Hause gehen könne keiner der Ausgewiesenen, sagt der Offizier, „denn sie sind ja jetzt zuhause". Sein Appell:
„Nehmen Sie sie auf als Gleichberechtigte." Immerhin haben auch die Neubürger Wahlrecht, „und die Stimme dieser Leute wird in jeder Gemeinde zu hören sein".

Captain Bird gibt den Kreisräten auch zu bedenken, dass schon bald die Zahl der Flüchtlinge, die der sogenannten Einheimischen übertreffen werde. „Dies ist ein Problem, das weiß ich, dass nur von intelligenten Männern gelöst werden kann, denn es verlangt rücksichtsvolles, vorsichtiges und bedachtsames Vorgehen. Danke, meine Herren, das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe."




Jugend verwahrlost

Kriminalität nimmt stark zu

Jugendkriminalität ist nicht erst ein Thema unserer Zeit. Schon vor 50 Jahren, als die Menschen im Landkreis noch viel stärker von christlichen Wertvorstellungen geprägt waren als heute, gab es viele Klagen über Straftaten junger Leute.

In seinem Tätigkeitsbericht für 1947, vorgetragen in der Kreistagssitzung am 30. Januar 1948, klagt der Leiter des Kreisjugendamts über eine Anhäufung von „Fällen der Verwahrlosung Jugendlicher, die früher nur in berüchtigten Vierteln großer Hafenstädte möglich gewesen sind".

Das lässt sich schon an den statistischen Zahlen festmachen: Musste das Kreisjugendamt 1946 noch 38 „gefährdete Jugendliche" überwachen, so waren es ein Jahr später bereits 48. Die Zahl der gerichtlich angeordneten  „Schutzaufsichten" stieg von 9 auf 21, und das trotz einer Justiz, die hoffnungslos überlastet ist und sich ohnehin nur der schwereren Fälle annehmen kann .

Der Berichterstatter wörtlich: „Die Steigerung der seelischen und materiellen Not unseres Volkes bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Jugendfürsorge."

Insgesamt wurden 110 Jugendliche straffällig - wegen aller möglichen Delikte. „Allgemeine Verwahrlosung" wurde in 28 Fällen festgestellt. Häufiger sind auch Diebstahlsdelikte (28), Hehlerei (16), Sittlichkeitsvergehen (11) und Schwarzhandel (10).

Dazu kommen jeweils sechs Fälle von Übertreten des Jugendschutzgesetzes und Verstöße gegen die Straßenverkehrsordnung, fünf Vergehen gegen Wirtschaftsgesetze, vier Mal schwerer Einbruch und zwei Mal Körperverletzung.

Auch bei Ehescheidungen ist das Jugendamt gefragt: In 54 Fällen sind 1947 Entscheidungen über das Sorgerecht für die Kinder zu fällen. Nur 55 Prozent der geschiedenen oder ledigen Väter sind bereit, für den Unterhalt ihrer Kinder  aufzukommen. Allein „die Ermittlungen nach geflüchteten Kindsvätern und die Einziehung der Unterhaltsbeiträge in der russischen Zone und in Österreich verursachen umfangreichen Schriftwechsel".

Die Zahl der amtlichen Vormundschaften steigt 1947 von 305 auf 485, „das umfangreichste Gebiet des Jugendamts". Gerade für die Mündel wird intensiv nach den Unterhaltspflichtigen gefahndet, „um die öffentliche Fürsorge zu entlasten".

Das Kreisjugendamt ist auf die Politik nicht so besonders gut zu sprechen. „Trotz vieler Reden über die Not unserer Jugend fehlt es an wirklichen Taten." Es wäre, so heißt es, „ein sehr fruchtbares Aufgabengebiet für unsere Parteien, eine positive Jugendfürsorge zu betreiben". Der Berichterstatter lädt darum die Kreisräte zu persönlichen Gesprächen ins Amt ein,„um die Erfordernisse der Zeit kennenzulernen.




Flüchtlingsleiden

Klage über Rattenschwanz von Verwandten

Die Worte von Captain Bird hatten Eindruck gemacht. Zur Rede des Chefs der amerikanischen Militärregierung in Wolfratshausen, der die Kreisräte in der Sitzung am 30. Januar 1948 wegen ihres Umgangs mit Flüchtlingen gemaßregelt hatte, gab es einige Diskussionsbeiträge.

Alois Reiser aus Münsing von der CSU drückt vor allem die Wohnungsnot: In den Häusern der Einheimischen leben gleich zu Dutzenden Flüchtlinge, manche Familien haben nur noch einen einzigen Raum für sich. Reiser: „Ich begrüße die intensiven Bemühungen des Landrats, neue Arbeits- und Wohnräume zu schaffen, um endlich eine Erleichterung in der Belegung der Bauernhäuser zu erreichen."

Zweifelsohne gebe es unter den Flüchtlingen sehr fleißige Menschen, sie passten aber einfach nicht in die bäuerliche Umgebung. Reisers Dietramszeller Fraktionskollege Schießl hat im Zusammenhang mit dem Flüchtlingsproblem ganz andere Sorgen.

„Wir sehen es gerne, dass der eine oder andere, der früher einen eigenen Betrieb besessen hat, sich selbständig macht. Wir können aber nicht mehr länger zusehen, dass sich heute jeder selbständig macht." Schießl sieht eine „enorme  Übersetzung der Gewerbe" kommen. Darum sollten gerade jüngere Arbeitskräfte erst einmal  bei einem „alten Meister" arbeiten müssen, bevor sie sich selbständig machen dürfen.

Diese Schwierigkeiten sieht Landrat Willy Thieme nicht: Das Gewerbereferat lege strenge Maßstäbe bei Neuzulassungen an. Selbständige müssen bei der Anmeldung Gesellen- oder Meisterprüfung nachweisen.

Als „Missstand" empfindet Kreisrat Graf Pocci (Ammerland) vom Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE),
dass Neubürger und Flüchtlinge „immer einen ganzen Rattenschwanz von mehr oder weniger verwandten oder verschwägerten Angehörigen mitziehen". Er fragt nach Maßnahmen dagegen.

Dr. v. Hoffmann, Leiter des Flüchtlingsamtes, verweist auf die gesetzlichen Vorschriften, wonach Zuzug nur aus Gründen
der Familienzusammenführung, und da nur bei Eheleuten und minderjährigen Kindern, sowie für Facharbeiter zulässig sei. „Illegale Grenzgänger" erhielten weder Lebensmittelkarten noch Zuzugsgenehmigungen. Sie würden zudem dem Auffang-Lager Allach gemeldet.

Nach Meinung des Weidacher Bürgermeisters Fritz Bauereis (SPD) greifen diese Regelungen nicht. Die Illegalen kämen nach Allach und von dort würden sie wieder den Gemeinden zugewiesen, wenn sich dort Verwandte oder Bekannte aufhalten, mit dem Hinweis, sie nähmen keinen zusätzlichen Wohnraum in Anspruch: „Die Praxis beweist jedoch, dass diese Leute nach kurzer Zeit mit Wohnraumansprüchen an die Gemeinde kommen, und die Verhältnisse vielfach ja auch tatsächlich so liegen, dass ein längeres Zusammenleben der Leute unmöglich ist."



Suche nach Ausländern

Einige tausend Ausländer in den Munitionsfabriken, dazu etliche Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter auf den Bauernhöfen. Der Krieg verwandelte auch den Landkreis Wolfratshausen in eine „multikulturelle Gesellschaft". Nach dem 30. April 1945, dem Tag, als im Landkreis die Amerikaner einrückten, verschwanden viele der Fremden aus dem Landkreis, um in ihre Heimat zurückzukehren. Andere blieben jedoch hier, neue kamen und lebten in den Lagern, etwa in Föhrenwald. Zustandig für sie war die Ausländersuchstelle am Landratsamt.

Drei Mitarbeiter sind in der im Februar 1947 eingerichteten Suchstelle beschäftigt: ein Leiter, ein Ermittler und eine Schreibkraft. Auf Anordnung der Flüchtlingsorganisation der Vereinten Nationen, UNRRA, müssen alle Quellen, die näheren Aufschluss über das Schicksal von Ausländern geben können, erschlossen werden.

In den Archiven von Gemeinden und den Unterlagen von Unternehmen, die Kriegsgefangene beschäftigten, wird geforscht. Ergebnisse dieser Suche werden im UNRRA-Büro in Ansbach gesammelt und von einem halben Dutzend weiterer Behörden ausgewertet.

Elf Formblätter je Vorgang erfordern genaue Recherchen. Erste Ergebnisse der Arbeit teilte der Leiter der Suchstelle, Hans Graziadei, am 30. Januar 1948 dem Kreistag mit. Der gesamte Bereich der Rüstungsfabriken im Wolfratshauser Forst ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht durchgearbeitet.

Erfasst werden 42 Arbeitskommandos mit 950 Kriegsgefangenen, davon 600 Franzosen, 250 Russen, 13 Polen und 88 Serben, vier Arbeitskommandos für Zwangsarbeiter aus Rußland und Polen (insgesamt 92 Menschen) sowie 5000 bis 7000 weitere Ausländer.

Auch über die Opfer des Todesmarschs vom KZ Dachau durch den Landkreis gibt der Bericht Auskunft. 64 KZ-Häftlinge wurden in sieben Gräbern außerhalb der gemeindlichen Friedhöfe beerdigt, davon 40 in Degerndorf (Wald bei Bolzwang), 21 in Beuerberg, zwei in Königsdorf und einer in Manhartshofen. Die Gräber in Königsdorf befanden sich nahe des Torfwerks. Sie wurden, wie Graziadei berichtet, „von der Gemeinde in einen der Toten würdigen Zustand gebracht und mit einem Birkenkreuz versehen."

Weitere 93 KZ-Häftlinge wurden auf Gemeinde-Friedhöfen bestattet, dazu 81 ausländische Fremdarbeiter, 23 Kinder und 34 abgestürzte Piloten alliierter Flugzeuge. Acht dieser Luftwaffen-Soldaten, deren Maschine bei Puppling explodiert war, wurden 1947 von einer Militärkommission exhumiert und nach Amerika überführt.



Aufschwung durch Flüchtlinge

„Ich habe vor einem Jahr die Hoffnung geäußert, dass es einmal heißen möge, dass der Landkreis Wolfratshausen sich tapfer gegen das Chaos, das uns das Naziregime hinterlassen hat, zur Wehr gesetzt hat. Das Jahr 1947 hat diese Hoffnung erfüllt."

Mit Zuversicht blickte Landrat Willy Thieme in der Kreistagssitzung am 30. Januar 1948 in die Zukunft. Und in der Tat, die Berichte der Referatsleiter vermittelten durchaus auch Lichtblicke zwischen all den Schatten.

Der Leiter des Wohlfahrts-Referats Ottho (heute würde man von Sozialamt sprechen) gehört zu jenen, die Positives zu berichten wissen. „Trotz der noch immer steigenden allgemeinen Not" muss der Landkreis immer weniger Fürsorge bezahlen. „Jeder Monat bringt jetzt eine Reihe von Fällen, wo die Unterstützungszahlung eingestellt oder zumindest entsprechend gekürzt werden kann."

Das hängt auch damit zusammen, dass die Landesversicherungsanstalt, die erst kurz zuvor ihre Arbeit aufgenommen hat, Renten bezahlt, wo bis dahin noch der Kreis das Überleben der Menschen sichern musste. Von 3240 Menschen im Landkreis (rund zehn Prozent der Bevölkerung), die im Dezember 1947 auf Unterstützung angewiesen waren, sind drei Viertel Flüchtlinge. Aber die Neubürger aus dem Egerland, aus Schlesien und anderen Oststaaten sind auch am wirtschaftlichen Aufschwung stark beteiligt.

Laut Gewerbeamt gehören 175 von 1000 Unternehm im Landkreis  Flüchtlingsfamilien. Sie haben vor allem  Industrieunternehmen gegründet, von denen es 30 im Landkreis gibt. Dazu kommen 650 Handwerksbetriebe, 213 Einzelhandelsgeschäfte und 129 Gastwirtschaften zwischen Baierbrunn und Königsdorf, Höhenrain und Sauerlach.

Stärkste Handwerksbranche sind übrigens die Schneider mit 139 Betrieben, 26 davon gehören Flüchtlingen. Diese Zahlen täuschen indes nicht darüber hinweg, daß der Wirtschaftsaufschwung auf sich warten läßt. „Dahinschleppende Produktionen, Mangellage aller Güter, versteckter und offener Schwarzhandel und Hoffnungslosigkeit weiter Bevölkerungskreise: Die Geschäftsmoral scheint immer weiter abzusinken."

Gerade Arbeiter und Angestellte, so der Bericht, hätten unter der Situation zu leiden, weil sie für ihre Arbeitskraft nur wenig Geld erhielten. „Am schlimmsten aber sind jene Menschen dran, die nicht ihre Arbeitskraft, auch nicht gegen Geld vergeben können, also Kranke, Versehrte und alte Personen."

Gegen den Schwarzhandel scheint freilich kein Kraut gewachsen: „Die Polizei ist mit viel zu viel Schreibkram und Kontrollgängen befasst, so dass sie nicht genügend Zeit hat, zu langwierigen Fahndungs- und Ermittlungsmaßnahmen." Die Schwarzhändler indes hätten immer mehr Routine, „und hinter manch biederer Maske verbirgt sich ein mit allen Wassern gewaschener Schieber".



Zwei Menschen pro Wohnraum

Die aus heutiger Sicht nicht mehr vorstellbare Wohnungsnot ist eines der gravierendsten Probleme, die der Landkreis Wolfratshausen nach Kriegsende zu bewältigen hat. Im Durchschnitt sind in jedem Wohnraum zwei Menschen untergebracht. Das Kreiswohnamt sah unter anderem „moralische Gefahren, vor allem für die heranwachsende Jugend". Gerade in den „Massenlagern'', wie etwa Buchberg, seien die Zustände „äußerst dürftig", wie es am 30. Januar 1948 in den Berichten an den Kreistag heißt.

Zu leiden haben auch alte Menschen. „Die beiden im Landkreis errichteten Altersheime, das Haus Matuschka in Ammerland und das Altersheim Schwaigwall, reichen bei weitem nicht aus, um den Anforderungen gerecht zu werden." Geplant ist darum in Schwaigwall, wo 53 Menschen leben, der Ausbau eines Stadels. Damit könnten weitere 150 Senioren untergebracht werden. Aber, so der Bericht: „Die Hauptschwierigkeit liegt in der Beschaffung der entsprechenden Baumaterialien und von Arbeitskräften."

Ähnlich sieht es auch auf dem Wohnungsmarkt aus. Zwar ist der Zuzug nicht mehr so stark wie in den Jahren zuvor,
dafür aber häufen sich die Anträge auf „Wohnungsverbesserung". Dies sei durchaus verständlich, heißt es, weil „einerseits die Flüchtlinge seinerzeit nur provisorisch untergebracht wurden, andererseits durch das Heranwachsen der Jugend die Wohnverhältnisse in vielen Fällen untragbar geworden sind".

Zusätzliche Wohnungen aber gibt es kaum, da mangels Baumaterialien fast nichts neugebaut werden kann. „Es muss daher immer wieder zu Beschlagnahmungen kommen." Besonders betroffen sind die Gemeinden entlang der Bahnstrecke. Diese Orte seien „derart überfüllt, dass Ansuchen monatelang unberücksichtigt bleiben müssen".

Eine neue Bestandserhebung einer Regierungskommission erfasste 427 leere Räume (keine Wohnungen, d. Red.). Die meisten Eigentümer haben gegen die Beschlagnahmungen jedoch Widerspruch eingelegt. Die Bearbeitung von 200 Beschwerden verlangt dem Kreiswohnamt einiges ab: „Viele Inhaber von Wohnungen, die es bisher verstanden haben, ihre Wohnungen zu tarnen oder eine Belegung zu verhindern, reichten ebenfalls Beschwerden ein, um zumindest eine Verzögerung zu bewerkstelligen." Das Gesetz, wonach leer stehende Räume dem Amt gemeldet werden müssen, werde ohnehin nicht beachtet.

Auch die Zusammenarbeit zwischen Landkreis und Gemeinden ist dadurch gestört. Oftmals vergeben Wohnungseigentümer ihre Räume auch selber, und das Kreiswohnamt muss dann „zu Unrecht eingezogene Mieter  wieder aus den Wohnungen entfernen" - meist ist dies nur unter Mithilfe der Polizei möglich.

Fazit: „Ohne durchgreifende Belebung des Baumarkts kann das Wohnungs¬problem nicht gelöst werden. Eines Tages hört die Beschlagnahmung auf, die Menschenzahl wird trotzdem größer und wir stehen vor unlösbaren Problemen."




Banken ohne Geld

Finanzmarkt nach Kriegsende völlig kollabiert

Der Zusammenbruch Deutschlands nach dem Krieg ist vollkommen. Die Menschen leiden Not. Die Wirtschaft ist zusammengebrochen. Keine leichte Aufgabe hat in dieser Zeit die Sparkasse Wolfratshausen, die den Unternehmen beim friedlichen Neubeginn mit Kapital (damals noch Reichsmark) und Fachkenntnissen zur Seite stehen soll. Am 27. Januar 1947 erstattet Sparkassendirektor Dr. Josef Schwarzenbeck dem Wolfratshauser Kreistag erstmals Bericht.

In „wirtschaftlich geordneten Zeiten'', so der Leiter des kreiseigenen Geldinstituts, hätten Banken und Sparkassen ihre Aufgabe „in der Pflege des kurzfristigen und langfristigen Kreditgeschäfts und in der Verwaltung der anvertrauten Vermögensteile".

Nach dem Krieg ist alles anders: Die rechtlichen Bestimmungen sind undurchsichtig. Viele Unternehmen, gerade jene, deren Inhaber Parteimitglied war, stehen unter treuhänderischer Verwaltung. Das heißt, ein Beauftragter der  Militärregierung führt die Firma, bis die Entnazifizierung durchgeführt ist. Viele Treuhänder wirtschafteten nebenbei in die eigene Tasche.

Schwarzenbeck spricht von einer „Blockierung" der Unternehmen und sieht die Aufgabe der Sparkasse darin, treuhänderischen Missbrauch zu verhindern („die Voraussetzungen zu schaffen, dass Treu und Glauben gewahrt bleiben"). Nicht zuletzt dient dies auch dem eigenen Interesse des Geldinstituts, um die Rückzahlung bestehender Kredite zu sichern und nicht auf den Rückständen sitzen zu bleiben.

Schwarzenbeck: „Es war eine selbstverständliche Folge, dass manche blockierte Person nunmehr begann, das Geld zu horten und nicht mehr zu seiner Bank brachte. Dies hatte wiederum zur Folge, dass vorhandene Sollstände keine Bewegung mehr erfuhren."

Die juristisch undurchsichtige Lage aber macht es den Banken schwierig, Zins- und Tilgungszahlungen durchzusetzen. Gerade bei Unternehmen, die treuhänderisch verwaltet werden, erlaubt die Militärregierung in der Regel keine Zwangsmaßnahmen.

Bereits seit Kriegsbeginn 1939 gewährte die Sparkasse selten langfristige Kredite, auch die private Bautätigkeit war fast zum Erliegen gekommen. Schwarzenbeck: „Andererseits brachte die planlose Geldwirtschaft des vergangenen Regimes eine ungesunde Kapitalanhäufung mit sich. Somit war eine Überkapitalbildung vorhanden und die Nachfrage nach Darlehen wurden zur Seltenheit."

Weniger Kreditvergaben bedeuteten für die Sparkasse Wolfratshausen, dass sie ihr Geld anderweitig anlegen musste.
Das Dritte Reich nahm das Geld als Reichsanleihen, finanzierte also mit Privatvermögen Aufrüstung und Krieg.
Die Reichsanleihen boten „eine verlockend höhere Verzinsung", den Versprechen habe man, so Schwarzenbeck. „leider geglaubt".

Im Januar 1947, das neue Staatsgebilde Bundesrepublik Deutschland ist noch nicht einmal konkret angedacht, sieht der Bankchef allerdings große Schwierigkeiten, das Geld wiederzurückzubekommen. „Zinseingänge aus diesen Wertpapieren sind seit Kriegsende ausgeblieben."

Angesichts solcher Probleme fordert Schwarzenbeck Gesetze, die es dem Staat unmöglich machen, „Zugriff auf  Privatkapital zu nehmen". Denn: „Das Volksvermögen wäre, wenn die letzten beiden Kriege nicht Milliarden verschlungen hätten, für jeden Einzelnen so groß, dass wir eines der reichsten Länder des Kontinentes wären."




Hoffen auf die Währungsreform

Wer mag da heute von Schulden reden? 700 Milliarden Reichsmark Miese hinterlässt das Dritte Reich den Deutschen. Dem entgegen stehen zahllose zerstörte Städte und ein Geld-Umlaufvermögen von gerade einmal 5,5 Milliarden Reichsmark - weniger als 1914, vor dem Ersten Weltkrieg.

„Die Bankrotteure von gestern hinterließen uns ein vollkommen zerrüttetes Geld- und Wirtschaftsleben", berichtet Dr. Josef Schwarzenbeck, Direktor der Kreissparkasse Wolfratshausen, ein Jahr später, am 30. Januar 1948 dem Kreistag.

Die von Schwarzenbeck eröffnete Rechnung ist düster, obwohl die Reparationszahlungen an die Siegermächte nicht einmal eingerechnet sind. Dabei wirken sie sich stark auf die Wirtschaftslage im Landkreis Wolfratshausen aus: Sämtliche funktionsfähigen Maschinen, vor allem die Energieversorgung der ehemaligen Fabrik Wolfratshausen, sind von den Alliierten abtransportiert oder gesprengt worden, was den Neuaufbau einer „Friedensindustrie"  deutlich erschwert.

Geld ist gleichwohl nicht das Problem der Bürger. „Das einzige, woran wir keinen Mangel haben, sind Geld und in Geld umsetzbare Forderungen", so der Sparkassen-Chef. Nur: Das Geld ist beinahe wertlos, weil es keinen Gegenwert hat.

Zudem ist 1947/48 noch unklar, wie die Schatzanweisungen des Dritten Reichs zu behandeln sind, wer für die Kredite der Bürger an den Staat gerade steht. Darum „ist es auch nicht möglich, den Sparern eine verzinsliche Anlage ihrer Gelder zu gewährleisten", berichtet Schwarzenbeck.

So ist es auch kein Wunder, dass die Menschen im Landkreis zwar kaum etwas zu essen haben, aber viel Geld auf der hohen Kante: Zum Jahresende 1947 liegen auf den Sparbüchern der Sparkasse 13 Millionen Reichsmark.

Die Einlagen im Kontokorrentverkehr betragen 10,2 Millionen Reichsmark. Allerdings, so der Banker, „ist jener Teil der Bevölkerung, der von seiner Hände Arbeit lebt, kaum mehr in der Lage, zu sparen".

Die andere Aufgabe der Wolfratshauser Kreissparkasse, nämlich die Vergabe von Krediten, verleitet ebenfalls nicht zu Optimismus. Schwarzenbeck: „Das Lahmliegen unserer Wirtschaft hat zur Folge, dass das Kreditbedürfnis im Vergleich zu früher auf ein Minimum gesunken ist." Die Sparkasse Wolfratshausen profitiert allerdings von ihrer Provinzlage und davon, dass sie nur im Landkreis aktiv ist.

„Die Verluste einzelner kreditgebender Banken sind in Großstädten zum Teil sehr erheblich, da ein Großteil der Pfandobjekte durch Bombenschäden zerstört worden ist."

Schwarzenbeck hofft auf die in Aussicht gestellte Währungsreform, „die eine Gesundung unseres Wirtschaftslebens zur Folge haben wird". Erwartet wird dadurch auch ein „hohes Kreditbedürfnis" der Wirtschaft.




Tracht nicht akzeptiert

US-Militärregierung muss Vereine genehmigen

Trachtenvereine als politische Organisationen. Ein Witz? Keineswegs: Noch im Jahr 1948 verbot die amerikanische Militärregierungin Wolfratshausen sämtliche religiösen und kulturellen Vereine.Über diese und andere Auswüchse in der Arbeit des Statistik-Referatsim Landratsamt wird dem Kreistag am 30. Januar 1948 Bericht erstattet.

Mit der Übernahme der Macht in Wolfratshausen am 29. April 1945 erklärt die amerikanische Militärregierung sämtliche Vereine für aufgelöst und erlässt Richtlinien zur Lizensierung von Vereinen, die auch zwei Jahre später noch unübersichtlich sind.

Jedenfalls, so der Bericht, „hat die Militärregierung nur für einige wenige Gruppen von Vereinen die Ermächtigung zur Lizensierung erteilt", für gesellige und brüderschaftliche Vereine (Logen), für Sportvereine, Jugendorganisationen, landwirtschaftliche Vereine und Wohlfahrtsverbände.

Die Tätigkeit von Trachtenvereinen war indes offiziell untersagt, die der Schützenvereine erst recht, schon wegen der Auflagen zur Entmilitarisierung Deutschlands. „Da es jedoch nicht angängig ist, den Heimat- und Trachtenvereinen ihre Tätigkeit zu untersagen, werden sie stillschweigend geduldet" - bis die Lizenz endlich doch erteilt wird.

Erschwerend für die Neugründung von Vereinen ist die Bestimmung, dass „Mitläufer", also ehemalige Mitglieder der NSDAP mit geringer Schuld, zwar Vereinsmitglied werden, nicht aber eine Funktion wahrnehmen dürfen. Angesichts der Tatsache, dass fast alle, die bis 1945 Verantwortung hatten, Mitglied der Partei waren, bleiben nicht mehr viele mögliche Vorstände . . .



Tricksereien mit der Statistik

Das gleiche Referat, das sich mit Vereinsgründungen befasst, schlägt sich auch mit Statistiken herum: Vor allem der Viehzählung und der Bodennutzungserhebung kommt größte Bedeutung zu, sind sie doch die Grundlage für Lebensmittel-Zuweisungen durch die Besatzungsmacht.

Die Amerikaner vertrauen den deutschen Zahlen: „Es kann hieraus aber nicht gefolgert werden, dass niedrigere statistische Zahlen erhöhte Lebensmitteleinfuhren zur Folge hätten." Fälschungen, so die Sorge, würden die Amerikaner
misstrauisch machen und dazu führen, dass die Besatzungsmacht „sich die erforderlichen Zahlen nach ihrer Methode beschaffen würde".

Daraus ergebe sich aber wohl eher eine Kürzung statt eine Steigerung der Lieferungen. Das Misstrauen, so scheint es, ist gerechtfertigt: „In Krisenzeiten ist der Bauer naturgemäß bestrebt, sich Reserven zu schaffen." Die Versuchung sei groß, für die amtliche Statistik weniger Vieh und weniger landwirtschaftliche Flächen anzugeben.

Und tatsächlich: „Das Ödland wird immer größer." Die amerikanische Kritik, die Deutschen nutzten ihren Grund und Boden nicht, könne daher nur schwer entkräftet werden und schon gar nicht „durch die geläufige Bemerkung, Statistik sei doch nur eine andere Art von Lüge".

Die Forderung des Landratsamts: „Soweit es möglich ist, muss daher statistische Wahrheit angestrebt werden".




Alles rationiert

Kaum Autos in Privatbesitz

Seitenweise Gebrauchtwagen-Angebote in der Tageszeitung, nach dem verlorenen Krieg ist dies in Deutschland undenkbar. Der Handel mit Kraftfahrzeugen ist streng reglementiert. Handel ist ohnehin zu viel gesagt: Autos in Privatbesitz gibt es kaum, die Kraftfahrzeuge sind entweder beschädigt oder beschlagnahmt. Genaue Zahlen liefert in der Kreistagssitzung am 30. Januar 1948 Ludwig Kollmeier, der Chef des Straßenverkehrsamts.

..Erfreulich" nennt Kollmeier die rückläufige Zahl an Beschlagnahmungen von Pnvatautos. Wurden 1946 noch 91 Kraftfahrzeuge enteignet und an die Polizei, die Spruchkammer oder das Flüchtlingskommissariat übergeben, so gab es im Jahr darauf nur noch drei Fälle. Sie waren, so der Beamte, „mehr Recht als Härte".

Eine weitere Beschlagnahmeaktion war im Juli 1947 von den zuständigen Staatsbehörden geplant gewesen (20 Motorräder, zwei Autos). Landrat Willy Thieme konnte sie aber in letzter Minute noch verhindern. Für 1948 sind Beschlagnahmungen gänzlich unmöglich geworden: Laut Gesetz dürfen selbst stillgelegte Fahrzeuge von den Behörden nur noch gemietet und nicht enteignet werden.

Weniger Zwangsmaßnahmen, mehr freier Handel: 116 Fahrzeuge im Landkreis wechseln 1947 den Besitzer. Kollmeier:
„Die Genehmigung wird vorläufig noch davon abhängig gemacht, dass der Käufer betankt wird, um einer Kfz-Hortung und Geldanlage vorzubeugen." Alles dies dreht sich indes um Gebrauchtwagen.

Neufahrzeuge gibt es fast nicht: Insgesamt 74 Anträge zum Kauf eines Kraftfahrzeugs sind beim Straßenverkehrsamt 1947 eingegangen, mehr als die Hälfte davon (46) betreffen Lastwagen, die anderen Pkw (13) und Motorräder (10). Durch die Regierung von Oberbayern wurden gerade einmal drei Lastwagen zugeteilt. „Bis heute kam noch kein einziger Pkw in den Landkreis, und für 1948 sind nur ein oder zwei Stück in Aussicht gestellt."

Wie gering 1947 die Zahl der Kraftfahrzeuge ist, zeigt eine andere Zahl: Benzinzuteilungen gibt's nur für 200 Personenwagen, 450 Motorräder, 210 Lastwagen sowie 340 Zugmaschinen.

Gemeinsam mit der Polizei führte das Straßenverkehrsamt 1947 über 50 Verkehrskontrollen durch. In 63 Fällen wird Strafanzeige erstattet, sieben Mal der Führerschein entzogen und weitere 16 Mal das Auto für vier Wochen zwangsweise stillgelegt. Die Vergehen: missbräuchliche Benutzung, mangelhafte Führung des Fahrtenbuchs, Vergessen der Papiere und Fahren während der Sperrzeit.

Auch der öffentliche Busverkehr ist infolge des Kraftstoffmangels nur auf vier Linien möglich. Für Bad Tölz-Wolfratshausen, Dietramszell-München, Arget-Schönegg-Wolfratshausen und Ascholding-München stehen 3,5 Tonnen Diesel-Kraftstoff monatlich zur Verfügung. Im Jahr 1948 gibt es eine Postomnibus-Route zwischen Starnberg und Sauerlach. Ein weiterer Bus verkehrt auf der Linie Lager Föhrenwald-München. Er gehört der UN-Flüchtlingsorganisation
IRO (vormals UNRRA) und dürfte weitgehend für die Bewohner des Lagers reserviert gewesen sein.



Für Zigaretten gibt's alles

Marlboro, Lucky Strike sind nach dem Krieg die heimliche Währung, der Ersatz für die wertlose Reichsmark. Wer Zigaretten hat, bekommt alles, was er will, sogar die überall knappen Lebensmittel.

Für eine Schachtel Zigaretten sind auf dem so genannten „Judenmarkt" (vor dem Lager Föhrenwald) 80 Reichsmark zu bezahlen, für eine Tafel Schokolade nur 30. Wer einen kleinen Garten hat, hilft sich selber: „Sondermischung Nr. 4" heißt schon zu Kriegszeiten der Tabak aus Wolfratshauser Produktion.

Der Chef des Ernährungs- und Wirtschaftsamts Wolfratshausen, Max Roth, widmet dem Thema Zigaretten in seinem Jahresbericht einen ganzen Absatz. Er berichtet am 30. Januar 1948 dem Kreistag:

„Die Tabakversorgung brachte auch im verflossenen Jahr die Schlangevor den Einzelhandelsgeschäften nicht weg." Der Grund: Zwar steht jedem Bürger laut Kontingentierung eine bestimmte (geringe) Menge Tabak zu, selbst so wenig aber ist überhaupt nicht lieferbar.Vor allem Arbeitnehmer kommen dadurch zu kurz.Roth: „Es kommt vor allem derjenige zu seinen Rauchwaren,der über die entsprechende Freizeit (Nichtstuer usw.) verfügt."

Erst im Dezember kann das Wirtschaftsamt durch eine Sonderration wenigstens den laufenden Bedarf decken. Für das Jahr 1948, so sieht der Amtschef voraus, könne es nur eine Verbesserung geben, wenn die Einfuhren entsprechend erhöht werden. „Eine Deckung aus deutschem Tabak", so bilanziert Roth, „ist unmöglich."

Viel gravierender für die Menschen ist im Winter 1947/48 allerdings die Brennstoff-Knappheit. 5300 Tonnen Steinkohlenkoks, Briketts und oberbayerische Kohle sowie 2900 Tonnen Großweiler Braunkohle und 1050 Tonnen Briketts für den Hausbrand stehen dem Landkreis rechnerisch zu. Bei den Briketts werden die Lieferzusagen
gerade einmal zu gut 50 Prozent erfüllt: Die Menschen müssen eng zusammenrücken, um nicht zu frieren.

Die Zuteilungen bekommen, so berichtet Roth, die „lebensnotwendigen Betriebe" sowie Behörden und Schulen. Eine Sonderration (50 Kilogramm) erhalten Rentner über 70 Jahre und Schwerstbehinderte. „An die Haushaltungen können 1 Zentner Briketts sowie 4 Zentner Großweiler Braunkohle verteilt werden, was als kleine Zubusse zu der an und für sich geringen Holzzuteilung angesprochen werden kann."

Größeren Firmen, vor allem die neu angesiedelte Industrie in der früheren Rüstungsfabrik, wird „nur für Notstände" Kohle zugewiesen. Die Schmieden im Landkreis profitieren von einem Waggon reiner Schmiedekohle, der unberechtigt aus der englischen Besatzungszone kam und vom Wirtschaftsamt beschlagnahmt wurde.

Die Brennholz-Umlage beträgt fürs ganze Jahr 1947 28 000 Ster, 2 bis 3 Ster pro Haushalt. 80 Prozent davon werden tatsächlich geliefert - gegen den Widerstand vieler Waldbauern, die durch Beschlagnahmung gezwungen werden, Holz einzuschlagen. „Eines der schwierigsten Kapitel", wie Roth sagt.

Der im Landkreis in den Mooren abgebaute Torf (als Brennstoff) muss fast komplett nach München abgegeben werden,
„ein Fehlschlag", wie der Beamte sagt. „Es konnte jedoch dem Landkreis Torf aus dem Preßtorfwerk Quarzbichl im Umfang von 2000 Zentnern zugeführt werden." Für 1948 soll der Abbau weiter verstärkt und ein zusätzliches Torfwerk eingerichtet werden.

50 Jahre später beklagen die Naturschützer  die Zerstörung von über 90 Prozent der Moorflächen im Landkreis.



1948 fehlt es an allem

Ein Paar Schuhe oder gar keine Schuhe? Aus heutiger Sicht nicht vorstellbar ist der Mangel an gewöhnlichen Gebrauchsgegenständen in den Jahren 1946 bis 1948 im Landkreis Wolfratshausen. Der Mangel wurde indes verwaltet, vom Ernährungs- und Wirtschaftsamt Wolfratshausen. Behördenchef Max Roth erstattet dem Kreistag am 30. Januar 1948 Bericht.

Rund 30 000 Einwohner hat der Landkreis 1947/48, knapp die Hälfte davon sind Flüchtlinge aus ehemals deutschen  Ostgebieten. An sie können 12 750 Paar Schuhe, „von Kleinkinder- bis Arbeitsschuhen", ausgegeben werden. Etliche Leute müssen sich mit Holzschuhen behelfen. Zudem organisiert das Wirtschaftsamt aus Wehrmachtsbeständen 70 Paar „zum Teil sehr gut erhaltene Militärstiefel", die an die Betriebe verteilt werden.

Aber die Menge der Schuhe ist nicht das alleinige Problem, Beschwerden gibt es wegen der Qualität: „Der Fabrikschuh, allen voran der Arbeitsschuh, lässt in der Ausführung sehr zu wünschen übrig. Es werden ständig Klagen laut, dass der gekaufte Schuh erstens nicht dem Preis und zweitens nicht dem Materialwert entspricht."

Kein Wunder, dass die Schuster Hochkonjunktur haben, oder, wie es Max Roth formuliert, „dass der arbeitsfreudige Handwerker einen größeren Kundenkreis besitzt".

Sehr kompliziert ist auch die Rationierung bei der Bekleidung. Jeder Bürger bekommt Punktekarten, jedes Kleidungsstück hat einen bestimmten Punktwert: Ein Anzug etwa kostet 115 Punkte, ein Sommerkleid 25 Punkte und ein Hemd 22 Punkte. Wurden im gesamten Landkreis 1946 noch 260 000 Textilpunkte verteilt (rund 90 pro Kopf), so waren es 1947 schon 850 000 die Situation entspannt sich also.

Nicht mehr ganz so dramatisch ist 1948 auch das Seifenproblem: Unmittelbar nach dem Krieg hatte es hier akuten Mangel gegeben. 1947 werden immerhin schon 12 700 Einheitsseifen (für jeden dritten Bürger eine), 60 000 Kilo Waschmittel und 11 000 Kilo Rasierseife verteilt - mittels „Seifenkarte" übrigens.

Verschlechtert hat sich aber das Angebot an Fahrrädschläuchen. Gegenüber 1946 hat sich deren Zahl im folgenden Jahr
um 30 Prozent auf 2000 reduziert.

Auch Heizöfen sind nurmehr 200 verfügbar (1946: 920). Ähnlich ist die die Situation bei Prozellan, allerdings, so Max Roth,
„aus eigener Initiative des Wirtschaftsamtes konnten 2000 Bauerntassen durch eine Herstellerfirma aus dem Landkreis verteilt werden".



Preise werden überwacht


Soziale Marktwirtschaft, dieses Schlagwort für das deutsche Wirtschaftswunder wird erst in den 1950er Jahren geprägt.
Vor der Währungsreform 1948 gibt es in Deutschland Planwirtschaft: Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs sind nur rationiert erhältlich, und die Preise werden behördlich festgelegt und überwacht, mit erheblichem bürokratischen Aufwand. Chef der Preisbehörde im Wolfratshauser Landratsamt ist Dr. Robert Kühn. Er erstattete dem Kreistag am 30. Januar 1948 über seine Arbeit Bericht.
 
Die Planwirtschaft ist keine Erfindung der amerikanischen Besatzer, schon während des Krieges wurde der Mangel vom Staat verwaltet. Kein Wunder, dass Kühn und seine beiden Mitarbeiter über ausreichend Erfahrungen verfügen:

„Die Preisbehörde war auch im Jahr 1947 bemüht, das vorgeschriebene Preisniveau, vor allem für die auf die Markenzuteilung angewiesene Bevölkerung, aufrecht zu erhalten und ein weiteres Ansteigen der Mietzinshöhe zu verhindern."

Keine leichte Aufgabe: Durch die knapper werdenden Lebensmittel wird vor allem der Schwarzmarkt gestärkt und damit natürlich das stattliche Preisdiktat ausgehebelt. 63 Ordnungsstrafen werden wegen illegalen Handels verhängt, im Durchschnitt 200 Mark Geldbuße. Mit der Preisbindung gekoppelt sind auch Qualitätsprüfungen, zum Beispiel für Wurstwaren.

Ein Ausschuss, verstärkt durch Sachverständige der "chemischen Untersuchungsanstalt, der Veterinärpolizei und des Metzgerhandwerks, tagt monatlich und prüft die Lebensmittel. Das Resultat des Gremiums: „Die Versorgung der Bevölkerung mit Wurstwaren ist der Qualität nach besser als in München."

Mit der steigenden Zahl der Flüchtlinge im Landkreis werden auch vermehrt Anträge auf Mieterhöhungen gestellt,
überwiegend aus den dicht bevölkerten Orten entlang der Bahn und am Ufer des Starnberger Sees. Laut Kühn wurden 90 Prozent der Anträge einvernehmlich entschieden.

Schwieriger ist hingegen die Beschaffung von dringend benötigten Baugrundstücken, da die meisten Eigentümer vor der angekündigten Währungsreform nichts verkaufen wollen. Die Verpachtung hingegen sieht die Preisbehörde „nicht als geeignete Grundlage für die Bebauung" an, wie es heißt.

Einen Ausweg aus dem Dilemma sieht Kühn nur darin, Verkäufe auch dann zu genehmigen, wenn der Kaufpreis bei Abschluss des Vertrags noch offen bleibt und eine Einigung darüber erst später, nach der Währungsreform, erfolgt.

Der Grundstücksverkehr in der Landwirtschaft ist im Übrigen durch eigene Gesetze geregelt: Über Verpachtung, Erbfolge
und ähnliche Probleme entscheidet ein am Wolfratshauser Amtsgericht angesiedeltes Bauerngericht in der Besetzung  ein Richter, zwei Schöffen.




Schulkampf

Streit um Bekenntnis-Unterricht

Heute bringt die Frage „Schulkreuze - ja oder nein?" die Volksseele zum Kochen. Vor 49 Jahren gab es noch ganz andere Streitthemen. Sie hatten freilich eine ähnliche Dimension.

Im seinem „Bericht über den Stand des Volksschulwesens im Landkreis Wolfratshausen" fürchtet der Schulamtsleiter gar einen „Schulkampf" wegen des Streits um die Einrichtung evangelischer Bekenntnisschulen. Widerstandslos will sich die katholische Mehrheit im Landkreis ihr „Schul-Monopol" offenbar nicht nehmen lassen.

Noch zur Jahreswende 1947/48 sind sämtliche Volksschulen des Landkreises katholische Bekenntnisschulen. An ihnen dürfen auch nur katholische Pädagogen unterrichten. „Es sind aber auch acht evangelische Lehrer angestellt, die ausgetauscht werden sollten oder sollen" - was zur Folge hätte, dass es auch keinen evangelischen Religionsunterricht mehr gäbe.

Der evangelische Pfarrer Weber protestiert dagegen und stellt im Sommer 1947 den Antrag auf Einrichtung evangelischer Klassen. Die Regierung stimmt zu, da zieht Weber seinen Antrag wieder zurück - im Vertrauen darauf, daß die evangelischen Lehrer doch nicht entlassen werden. Darauf hofft auch das Schulamt, dass andernfalls „eine Verschlechterung der Schulverhältnisse für die evangelischen Kinder, Beunruhigung der Eltern, unter Umständen Aufflackern eines allgemeinen Schulkampfes" befürchtet.

Übrigens sind im Januar 1948 von 5312 Schulkindern im Landkreis 4531 katholisch (85 Prozent), 734 evangelisch und 47 haben einen anderen Glauben. 1860 Kinder sind sogenannte „Nichtbayern".

Damit stellt sich den Verantwortlichen ein zweites Problem, das das Schulamt in seinem Bericht aufgreift: der „Überfremdung des Lehrkörpers".

Von den 100 Lehrern an 62 Schulen stammen 47 nicht aus Bayern. Dass der Anteil einheimischer Lehrer so gering ist, liegt vor allem daran, dass sämtliche Pädagogen, die ein Parteibuch hatten, nach 1945 aus dem Schuldienst entlassen wurden.

„Der letzte diesbezügliche Reinigungsprozess", so schreibt das Schulamt, fand im August 1947 statt und kostete sieben Lehrer die Stelle. „Wir wissen heute noch nicht, wie die entnazifizierten, bayerischen Lehrer noch unterzubringen sind", so der Schulamtsleiter.

Eine „kleine Lockerung" sei nur dadurch zu erwarten, dass die verheirateten Lehrerinnen, deren Männer arbeiten,
im Laufe des Jahres 1948 aus dem Schuldienst ausscheiden müssen und einige ältere Lehrer in Pension gehen.



Raumnot und fehlende Bücher

In den 1990er Jahren investierte der Landkreis in die Bildung des Nachwuchses runde 100 Millionen Mark - für neue Schulen. Direkt nach dem Krieg werden jedoch noch viel kleinere Brötchen gebacken. Viele Schulen sind mit Flüchtlingen belegt, die Unterrichtsräume sind unerträglich klein, das Inventar und die Lehrmaterialien meist unbrauchbar. Für Neubauten haben die Gemeinden freilich kein Geld, auch wenn das Schulamt immer wieder Verbesserungen anmahnt,
so wie in der Kreistagssitzung am 30 Januar 1948.

Vorausschauend im Sinne des Schulamts handelt 1947 einzig die Gemeinde Holzhausen. Sie errichtet einen neuen Schulsaal. Am 19. Januar 1948, elf Tage vor der Kreistagssitzung, hat auch die Schulnot für die Kinder des Flüchtlingslagers Buchberg (auf der heutigen Böhmwiese in Geretsried) ein Ende: Im späteren Altenheim St. Hedwig werden Schulsäle eingerichtet.

Erst 1950 baut die nun schon selbständige Gemeinde Geretsried ihr erstes Schulhaus in einem ehemaligen Bunker an der Adalbert-Stifter-Straße, in dem heute Jugendzentrum und Bücherei untergebracht sind.

Zurück zu 1948: Wie das Schulamt schreibt, gehören zu einer guten Schule „nicht nur gute Lehrer, sondern auch günstige äußere Schulverhältnisse". Diesen Anforderungen genügen die meisten Gemeinden nicht, in 25 der 63 Schulen muss wegen beengter Platzverhältnisse Schichtunterricht gegeben werden: „Das bedeutet eine Verkürzung der Unterrichtszeit, eine stärkere Abnutzung und Verschmutzung, damit auch eine gesundheitliche Gefährdung."

Nicht einmal für die nötigsten Reparaturen haben die Gemeinden Geld. Immerhin kann das Schulamt Baumaterial beschaffen: Das Abbruchmaterial der Rüstungsfabriken.

Selbst in der Pflicht steht der Landkreis bei der landwirtschaftlichen Berufsschule, über die es 1947/48 keine Klagen gibt,
und bei der Berufsschule Wolfratshausen, die im September 1947 ohne behördliche Genehmigung den Betrieb aufgenommen hat: Im Januar 1948 werden 138 Jugendliche unterrichtet in vier Sparten: Metallgewerbe, Holzgewerbe, kaufmännische - und Bekleidungsabteilung.

In seiner „Schlussbetrachtung" vertritt der Schulamtsleiter Werte, die auch heute noch aktuell erscheinen: „Die Schule ist eine Einrichtung im Staate, welche viele Kosten verursacht, aber keine unmittelbaren, in klingender Münze erfassbaren Werte hervorbringt. Das hat schon immer dazu geführt, über die hohen Schulausgaben zu klagen und die Mittel für schulische Zwecke zu beschneiden.

Und doch ist nirgends Sparsamkeit so wenig angebracht wie bei den Ausgaben für Erziehung und Unterricht. Ihre Verzinsung wird sich zeigen in einer leistungsfähigen, dem öffentlichen Leben aufgeschlossenen, für alles Gute, Wahre und Schöne eintretenden Generation."

Der Schulamtschef wendet sich ebenfalls gegen zu strenge Lehrer: „Körperliche Strafen wegen Faulheit und geringer Leistungen sind nicht mehr statthaft. Die Lehrerschaft sieht sich deshalb veranlasst, durch positive Erziehungsmittel den Stand der Leistungen zu heben."

Erste Maßnahme ist im Sommer 1947 ein Schülerwettbewerb, bei dem die besten Leistungen prämiert wurden. Zu den Stiftern von Sachspenden und Geld gehört neben dem Landrat, dem Kreisjugendamt, den Bürgermeistern und der Kreissparkasse übrigens auch die amerikanische Militärregierung.




In leere Bunker

Friedensindustrie in der Rüstungsfabrik

Eine der zukunftsträchtigsten Aufgaben des Landkreises Wolfratshausen nach dem Krieg ist die Ansiedlung von Friedensindustrien auf dem Gelände der Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst. Um die brach liegenden Kapitalwerte von rund 300 Millionen Reichsmark (Schätzung von 1945) möglichst schnell wieder nutzbar zu machen,
wird im Landratsamt das Referat Voralpenwerke, auch Referat X genannt, ins Leben gerufen. Dessen Leiter, Dr. Rissel, erstattet dem Kreistag am 30. Januar 1948 Bericht.

Das Referat koordiniert vor allem die Zusammenarbeit mit den Landesbenörden, bei denen die Bewerbungen für Industrieansiedlungen bearbeitet werden. Bis Ende 1947 sind 20 Betriebe im späteren Geretsried ansässig geworden, eine Handvoll kann die Bunker allerdings nicht beziehen, weil die amerikanische Militärregierung noch ihren Daumen drauf hat.

Die meisten Industrien gehören Unternehmern, die aus dem Sudetenland oder anderen ehemals deutschen Gebieten flüchten mussten. Ihr Fachwissen wenden die Firmenchefs im Sinne ihrer Landsleute an: Die Firma Empe etwa stellt Fenster und Einrichtungsgegenstände aus Holz her, die im Rahmen des Flüchtlingsnotprogramms verteilt werden.

„Trotz unermesslicher Schwierigkeiten", so Rissel, hat sich die Entwicklung „zufriedenstellend gestaltet". Rund 30 Prozent der Produktion einer Beleuchtungskörperfabrik ist im Landkreis verblieben, ebenso ein Viertel der Produktion an Holz- und Metallwaren sowie an Waschmitteln. „Erfreulich ist auch der hohe Anteil dieser Produktion am bayerischen Export sowie die Herstellung von Gütern und Anlagen, die - außer in Wolfratshausen - in ganz Westdeutschland nicht erzeugt werden."

Zur wirtschaftlichen Erschließung des Geländes durch das Referat X gehört aber nicht nur die Industrieansiedelung. Rissel vermeldet stolz, dass auch ein Lebensmittelgeschäft gegründet wurde, dass die Post im ehemaligen Pförtnerhaus eine Zweigstelle eingerichtet hat und dass im ehemaligen Gästehaus der Deutschen Sprengchemie (heute St.-Hedwig-Altenheim) Schulunterricht abgehalten wird.

Schwierig sind indes die Verhandlungen mit der Militärregierung, die weite Teile der ehemaligen Munitionsfabrik sprengen will. „Durch eine Eingabe an die Reparationsabteilung der Militärregierung für Bayern konnte erreicht werden,
dass eine Reihe wertvoller Gebäude von der Sprengung ausgenommen wurden. Das Referat ,Voralpenwerke' konnte
anhand von Bauplänen und Skizzen nachweisen, dass die genannten Gebäude durch bloßes Aufstocken in Wohn- und Fabrikgebäude verwandelt werden können und kein Kriegspotential mehr verkörpern."

Auf diese Weise hat die Behörde auch die geplante Zerstörung der Gleisanlagen zwischen Wolfratshausen und Geretsried (das heutige Industriegleis) verhindern können.

Keine Lösung finden Rissel und seine Mitarbeiter für die paradoxe Situation, dass der Landkreis zwar mit Flüchtlingen übervölkert ist, es aber nicht genügend Arbeitskräfte gibt.

Eine „Überprüfung" der Bürger bleibt erfolglos. Rissel hofft auf die Währungsreform, „denn so mancher wird sich dann gezwungen sehen, seinen Unterhalt wieder durch ehrliche Arbeit zu verdienen".



Bunker zu Wohnungen

Neben der Ansiedlung von Industriebetrieben auf dem Gelände der ehemaligen Rüstungsfabriken ist eine der Hauptaufgaben des Referats X („Voralpenwerke") der Wohnungsbau. Immerhin hat sich die Bevölkerung im Landkreis
durch den Zuzug von Flüchtlingen fast verdoppelt.

Wie Referatsleiter Dr. Rissel dem Kreistag am 30. Januar 1948 berichtet, ist der vorhandene Wohnraum, mit Ausnahme von Lager Buchberg (heute Böhmwiese), von den Vereinten Nationen beschlagnahmt: Sowohl im Lager Föhrenwald wie auch im Lager Stein sind heimatlose Ausländer und heimatlose Juden untergebracht. Deshalb können 1947 lediglich durch die Umwidmung von Fabrikgebäuden 100 Kleinwohnungen geschaffen werden, weitere 70 sind für 1948 geplant.

„Diese Maßnahmen bedeuten jedoch nur einen Tropfen auf dem heißen Stein" - zumal für die geplanten Projekte nur ein Minimum an Baumaterial zur Verfügung steht. Mittelfristig wird darum das „Siedlungsvorhaben Voralpenwerke" geplant. Die Regierung von Oberbayem genehmigt das Projekt 1947, ebenso das Arbeitsministerium als oberste Baubehörde, das für 1948 auch die Aufnahme in das bayerische Neubauprogramm beschlossen hat.

Vertreter der Staatsregierung unter Führung von Staatssekretär Jaenicke, der Direktor der örtlichen Militärregierung Captain Bird und die Fraktionsvorsitzenden des Kreistags besichtigten am 19. November 1947 das Gelände und bewerteten das künftige Geretsried als „bestes Bauvorhaben im Land".

Ausschlaggebend für die Unterstützung aus München ist nicht zuletzt die Tatsache, dass sowohl Straßen und Versorgungseinrichtungen vorhanden sind, wie auch etliche Bunker weiter benutzt werden können. Der Wert dieser Anlagen wird auf 600 000 Reichsmark taxiert.

Mit dem für Frühjahr 1948 vorgesehenen ersten Spatenstich sind indes nicht alle Probleme ausgeräumt, wie Rissel im Hinblick auf den Baustoff-Mangel betont. Aber: „Das Siedlungsvorhaben .Voralpenwerke' wird bald davon Zeugnis geben, dass der Landkreis Wolfratshausen nicht schläft, sondern bahnbrechend und beispielgebend für andere Landkreise an die Lösung der schweren Gegenwartsprobleme herangeht."

Rissel sollte recht behalten: Aus dem Siedlungsvorhaben wurde 1950 die Gemeinde und 1970 die Stadt Geretsried, die heute die einwohnerstärkste Kommune im Landkreis ist.




Thieme muss weg

Mit Abwahl startet die die Ära der CSU

Am 31. Mai 1948 endet die Amtszeit des ersten demokratisch gewählten Wolfratshauser Kreistags nach dem Zweiten Weltkrieg. In der ersten Sitzung des zweiten Kreistags am 12. Juni 1948 beginnt eine neue Ära, die bis heute andauert: Die Herrschaft der CSU.

Aufgrund der völlig veränderten Mehrheitsverhältnisse im Kreistag hat Landrat Willy Thieme (SPD), keine Chance auf Wiederwahl - obwohl ihm alle Fraktionen hervorragende Arbeit bescheinigen.

Zur Kreistagswahl 1945 waren, unter dem starken Einfluss der amerikanischen Besatzer, nur zwei Parteien in Wolfratshausen angetreten: Die CSU und die SPD; ein Randgruppendasein fristete der Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE), der einen Kreisrat stellte.

Letzterer ist im Kreistag 1948/52 gar nicht mehr vertreten: Für die Interessen der Flüchtlinge und Vertriebenen steht nun
eine parteiunabhängige Gruppierung namens „Gemeinschaft". Sie ist der große Gewinner der Kreistagswahlen - was nicht verwundert, da der Anteil der Flüchtlinge an der Bevölkerung bei fast 50 Prozent liegt.

Mit 24,1 Prozent Stimmenanteil und neun Sitzen wird die „Gemeinschaft" - Listenführer ist Dr. Paul Wüllner, Icking, ein späterer Landtagsabgeordneter - auf Anhieb zweitstärkste Fraktion im Kreistag Wolfratshausen. Die Vorherrschaft der CSU (28,9 Prozent/12 Sitze), bei der der spätere Bundestagsabgeordnete Dr. Franz Gleißner auf Platz 2 steht, wird nicht gebrochen, obwohl die Partei im Vergleich zu 1945 mehr als die Hälfte der Stimmenanteile verliert.

Verluste von 35 Prozent muss auch die SPD hinnehmen. Mit 16,4 Prozent (6 Sitze) ist sie nur noch viertstärkste Fraktion - und sieht sich einem starken rechts-konservativen Bündnis gegenüber.

Denn auch die kurz vorher gegründete Bayernpartei gehört zu den Wahlsiegern. Unter Führung von Martin Eichner aus Lochen holt sie sieben Sitze (17,4 Prozent). Die Wählervereinigung von Wolfratshausens Bürgermeister Hans Winibald kommt auf 5,8 Prozent (2 Sitze) und die FDP auf 5,1 Prozent (2 Sitze).

Den Einzug in den Kreistag verpassen indes die Kommunisten: Die KPD erhält nur 2,2 Prozent der Stimmen.

Zu Beginn der Sitzung, die Bayernpartei spricht von einer „heiligen Stunde", steht eine Erklärung der „Gemeinschaft".
Dr. Paul Wüllner appelliert an die Solidarität der Alteingesessenen: „Dass wir die Heimat, dass wir allen Besitz preisgeben mussten, ist eine Folge des verlorenen Krieges. Als Besiegte stehen Alt- und Neubürger gleichberechtigt nebeneinander."

Noch immer müssten sich die Neuankömmlinge im Landkreis aber „als Menschen zweiter Güte, als Menschen minderen Rechts" betrachten. Die Flüchtlinge - Wüllner spricht von „Ausgewiesenen" - erwarteten daher auch „von den Mitbesiegten Mithilfe" und zwar „ohne Hinterhalt und ohne Vorbehalt".

Der wichtigste Tagesordnungspunkt ist die Wahl des neuen Landrats. Die CSU nominiert den Ickinger Dr. Karl Reichhold, der bis dahin Landrat des Landkreises Hilpoltstein war und nach eigener Aussage dort, „falls er hier nicht gewählt werden sollte, am kommenden Montag mit überwiegender Mehrheit gewählt würde".

Die Sorge ist unbegründet: Mit 29 Stimmen setzt sich Reichhold klar gegen Amtsinhaber Thieme (9 Stimmen) durch, obwohl der SPD-Politiker auch die erklärte Unterstützung der „Gemeinschaft" haben soll.

Das Ergebnis macht deutlich, dass Thieme wohl nicht einmal mehr den uneingeschränkten Rückhalt in der SPD hat, sonst hätte er mindestens 15 Stimmen gutgeschrieben bekommen.

Für Thieme ist der Abschied aus der Kreispolitik nicht endgültig: Nach Jahren als Land- und Bundestagsabgeordneter  ehrt er 1966 für zwölf Jahre als Bürgermeister nach Wolfratshausen zurück.

Besonders erstaunt kann Reichhold über seine Wahl zum Landrat nicht gewesen sein. Eine vorbereitete Rede beginnt mit dem Satz: „Sie haben mich eben mit einer wenn auch nicht sehr bedeutenden Mehrheit zum Landrat Ihres Landkreises gewählt." Das „wenn auch nicht sehr bedeutenden" hat Reichhold dann nachträglich geändert, in ein „nicht überraschenden".

Zu Reichholds Stellvertreter wird der spätere Bundestagsabgeordnete Martin Eichner von der Bayernpartei gewählt.




Grußwort

In einer Zeit rasch wandelnder Verhältnisse ist es guter Brauch und zugleich sehr wichtig, historisch herausragender Ereignisse zu gedenken, um sich der notwendigen geschichtlichen Kontinuität zu vergewissern.

Ich halte es für gut, dass auch die Erinnerung an den demokratischen Neubeginn in Not und Elend hoch gehalten wird.  Wegen des damaligen Fehlens jeglicher übergeordneter staatlicher Instanzen mussten die Landkreise insbesondere auf wirtschaftlichem, sozialem und kulturellem Gebiet eigene Impulse entwickeln.

Die Serie „Die Kinderschuhe der Demokratie" beschreibt am Beispiel des Kreistages Wolfratshausen anschaulich die zahlreichen Probleme, mit denen sich diese „Männer der ersten Stunde" konfrontiert sahen. Zugleich zeigt sie, dass sich viele Diskussionen im Kreistag auch nach nunmehr 50 Jahren wiederholen, dass manche Probleme heute erneut auf der Tagesordnung stehen.

Ich habe deshalb gerne das Archiv unseres Landratsamtes geöffnet und die Niederschriften der ersten Kreistags-Sitzungen zur Auswertung zur Verfügung gestellt.

Die Resonanz auf die einzelnen Beiträge zeigt mir, dass quer durch alle Altersschichten Interesse an diesem Beispiel der „Graswurzel-Demokratie" besteht.

Manfred Nagler, Landrat
Bad Tölz, im September 1996
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