Heimat


Zum Geleit


Geretsried ist nicht nur die jüngste Stadt im Landkreis, es ist nicht nur die größte Kommune, es ist auch zeitgeschichtlich betrachtet das interessanteste Gemeinwesen. Seinen Anfang nahm dies am Ostersonntag, 7. April 1946, mit der Ankunft der ersten Vertriebenen.

Sie kamen in Viehwaggons aus dem Egerland, aus Tachau, Graslitz und Karlsbad. Sie besaßen kaum mehr als das, was sie am Leib trugen und wurden im ehemaligen Lager Buchberg einquartiert, in Behausungen, die diese Bezeichnung nicht verdienten. Später kamen Flüchtlinge aus Schlesien, aus Ungarn, aus Rumänien  (Siebenbürgen und Banat) und zuletzt die Spätaussiedler aus Russland.

Was sie geschafft haben in diesen mehr als 60 Jahren ist einzigartig.

Anlässlich des 50. Jahrestags der Ankunft der ersten Geretsrieder veröffentlichte der Geretsrieder Merkur 1996 eine 18-teilige Serie, die auf dieser Website, elf Jahre später, erneut publiziert wird.

Die Beiträge von Andreas Steppan (heute Redakteur beim Tölzer Kurier), Wolftrud Nahr (freie Mitarbeiterin Geretsrieder Merkur), Kaezia Nipperdey (ehemalige Praktikantin) und Andreas Tazl (ehemaliger Volontär) sind entsprechend gekennzeichnet.

Joachim Braun
Wolfratshausen, im August 2007




Tore bleiben zu

„In den Fenstern,
die im Finstem lagen,
zwinkert wieder Licht.
Freilich nicht in allen Häusern,
nein, in allen wirklich nicht ...
Tausend Jahre sind vergangen
samt der Schnurrbart-Majestät.
Und nun heißt's:
Von vorn anfangen!
Vorwärts marsch!
Sonst wird's zu spät!"

Erich Kästner veröffentlicht diese Verse zur selben Zeit, als im Lager Buchberg, auf der heutigen Böhmwiese, die ersten Vertriebenen aus Graslitz eintreffen. Willkommen, nein willkommen sind die Flüchtlinge nicht.

Allein die Rüstungsfabriken im Wolfratshauser Forst brachten schon seit Mitte der 30er Jahre mehrere tausend Fremde in den ehemals beschaulichen Landkreis. Landrat Hans Thiemo, den die Militärregierung auf Wunsch des Wolfratshauser Bürgermeisters Hans Winibald eingesetzt hat, erkennt die. Zeichen der Zeit als einer der ersten.

Er ernennt den Leiter des Wolfratshauser Wirtschaftsamts, Hermann Maria Kassian, per Sonderdekret zum Flüchtlingsbeauftragten. Kassian bekommt alle Vollmachten, um sudetendeutsche Flüchtlinge und deren frühere  Betriebe in der Fabrik Wolfratshausen anzusiedeln.

Wichtigster Ansprechpartner für Kassian ist neben der Staatsregierung und der US-Verwaltung die Münchner „Hilfsstelle für Flüchtlinge aus den Sudetengebieten". Ende des Jahres 1945 veröffentlicht die Organisation eine 30seitige „Denkschrift", in der konkrete Vorschläge zur Eingliederung der Flüchtlinge in den „Sozial- und Wirtschaftsorganismus
Bayern" gemacht werden:

„So schwer es für die deutschen Flüchtlinge aus der Tschecheslowakei ist, für ihre deutsche Volkszugehörigkeit ausnahmslos und einheitlich durch den Verlust von Heimat, Arbeitsplatz und Besitz bestraft zu werden, ebenso schwierig ist es zweifelsohne für die bayerische Landesverwaltung, der damit zusammenhängenden großen Probleme Herr zu werden."

Die „Hilfsstelle" schlägt deshalb vor, die einzelnen Industriezweige gesammelt in den verschiedenen Regionen anzusiedeln. Der Standort Wolfratshausen ist in der mehrseitigen Auflistung allerdings nicht einmal erwähnt. Im Januar 1946 ist Kassian in seinen Gesprächen mit der Militärregierung noch nicht zu einer Lösung gekommen:

Über das Ausmaß der Demontage und der Sprengung der einstigen „Fabrik Wolfratshausen" lassen die Amerikaner nicht mit sich reden. Das ändert sich erst im Frühjahr 1946: Landrat Thiemo war inzwischen abgesetzt, sein Nachfolger Willy Thieme sieht die Integration der zu erwartenden Flüchtlinge als eines der Hauptprobleme an.

„Es gab nur Elend zu verwalten. Wohnungsnot in nie gekanntem Ausmaß, bitterste Armut in Flüchtlingskreisen, die eingesessene Bevölkerung am Ende ihrer Kraft und Leistungsfähigkeit."

Als am 7. April die ersten Flüchtlinge eintreffen, sind die Werkstore der ehemaligen Rüstungsfabriken noch immer fest verschlossen. Lediglich das Barackenlager Buchberg außerhalb der Rüstungsfabrik, die den Fremdarbeitern als Notunterkünfte dienten, können den Heimatvertriebenen zugewiesen werden.

Und auch das ehemalige Verwaltungsgebäude - heute ist es das Rathaus - wird als Unterkunft bereitgestellt. Flüchtling Werner Sebb erinnert sich an die Ankunft: „Wir sahen entsetzt auf ein völlig verkommenes, von doppeltem Stacheldraht umgebenes und mit Wachtürmen bewehrtes Barakkenlager, das unsere neue Heimat sein sollte."




Quartiersuche

Die neue Heimat: Ein verfallenes Barackenlager. Keine Fensterscheibe ist ganz, Türen und Öfen zerstört, die Lichtleitungen herausgerissen. Am 7. April 1946 schlägt im Lager Buchberg auf der heutigen Böhmwiese die Geburtsstunde der Stadt Geretsried. Die Geburt ist schwer, auch für die ortsansässige Bevölkerung, die gewissermaßen Geburtshilfe zu leisten hat.

Im Lager Buchberg kommen die ersten 554 Neubürger an - allesamt Vertriebene aus dem böhmischen Graslitz. Der nächste Transport erreicht Geretsried Mitte Juni: 207 Flüchtlinge aus Tachau, die im Durchgangslager Hanau Zwischenstation gemacht haben.

Ihr neues Quartier wird das solide gebaute ehemalige Verwaltungsgebäude der Dynamit AG. In jedes Zimmer kommt eine Familie. Aus den Fenstern ragen die Abgasrohre kleiner Bolleröfen. Max Brieger, der vom amerikanischen Militär eingesetzte Treuhänder, holt die Flüchtlinge selbst am Bahnhof ab und weist ihnen Unterkünfte zu.

Unermüdlich aktiv ist Landrat Willy Thieme: Er fährt mit den Flüchtlingen in die bereits übervölkerten Dörfer der Umgebung, um weitere Quartiere zu finden. Bei den Gemeindeversammlungen macht Thieme den Ernst der Lage deutlich: „Die Wunden, die der verlorene Krieg geschlagen hat, sind verschieden. Aber die Wirkung ist
bei allen Bewohnern die gleiche.

Alle sind wir todwund geschlagen. Darüber täuschen der Besitz eines Anwesens, eines Hofes oder Geschäftes genauso wenig hinweg wie die roten Backen eines Todkranken. . . . Wer nach Wertbeständigkeit sucht, trachte nach guter Nachbarschaft und Freundschaft."

Es bleibt nicht bei Worten: Thieme gründet im Juni im Landratsamt das „Referat X", bei dem alle Aktivitäten in Sachen Flüchtlinge und Werk Wolfratshausen zusammenlaufen. Die Vorarbeiten dafür hatten der Sonderbeauftragte Hermann Maria Kassian und die Treuhänder der Rüstungsfabriken, Max Brieger und Eugen Herlitz, bereits ab Februar 1946 geleistet.

Bei einer Besprechung in München hatten sie sich auch der Mithilfe des bayerischen Ministerpräsidenten Wilhelm Hoegner und des Wirtschaftsministers Ludwig Erhart versichert. Der Einfluß der Staatsregierung ist freilich gering, wie Ludwig Erhart die Geretsrieder „Botschafter" aufklärt: „Wenn Sie sich mit Ihrem (amerikanischen) Control-Officer gut verstehen, erreichen Sie mehr als durch einen Minister."

Genauso ist es: In einer Aktennotiz vom 8. April 1946 werden die Schwierigkeiten im Umgang mit den amerikanischen Besatzern deutlich: „Bei der Vorsprache vom Leiter des Wirtschaftsamts Wolfratshausen, Kassian, im Büro des Control-Officer LG Farbenindustrie, Major Cottingham, München, ließ Major Cottingham durch seine Sekretärin, Fräulein Berg, mitteilen:

Major Cottingham wiederhole seine bereits mündlich erteilte Zusage hinsichtlich Überlassung jener Gebäude der Deutschen Sprengchemie Geretsried (DSC) an die von Kassian zum Zwecke der Ansiedlung von Industrien und Unterbringung sudetendeutscher Flüchtlinge."

Das dafür in Frage kommende Teilgelände der DSC mit den entsprechenden Gebäuden wurde bei der Besichtigung durch Major Cottingham am 10. März 1946 festgelegt. „Major Cottingham ist damit einverstanden und wünscht, dass der zur Abgrenzung dieses Teilgeländes erforderliche Zaun so schnell als möglich errichtet wird."

Eine schriftliche Bestätigung bekommt Kassian ausdrücklich nicht und auch nicht die erbetene Ermächtigung für eine ähnliche Nutzung des nördlich gelegenen ehemaligen DAG-Werks. Dafür bedarf es nochmals wochenlanger Verhandlungen.




Start mit Rudolf

Die Amerikaner wollen alles in die Luft sprengen, die deutschen Behörden wollen auf den ehemaligen Rüstungsfabriken im Wolfratshauser Forst Wohnungen und Friedensindustrie errichten. Völlig verfahren ist die Situation nach Kriegsende. Fieberhaft bemüht sich der Landkreis Wolfratshausen, um Unterkünfte für die erwarteten Heimatvertriebenen.

Die größte Gefahr für Geretsried droht bereits im November 1945: Ein Captain der US-Armee kommt mit etwa 50 Leuten einer Ingenieurtruppe ins Werk und kündigt die sofortige Sprengung an. 50 ehemalige SS-Leute, die im Lager Buchberg interniert sind, sollen dabei helfen.

Treuhänder Eugen Herlitz wird zur Geheimhaltung verdonnert. Der Deutsche hält sich aber nicht daran und kann über US-Stellen die Sprengung in letzter Sekunde verhindern.

Das Landratsamt will das reichseigene Gelände als Ganzes übernehmen und schlägt im März 1946 die Gründung einer „Industrie-Gesellschaft" vor, die die Flächen kaufen und später privatisieren soll. Dazu kommt es jedoch nicht. Erst acht Jahre später übernimmt die Landesanstalt für Aufbaufinanzierung (LfA) diese Aufgabe: Bis 1955 verhandelt sie mit der bundeseigenen Industrieverwertungsgesellschaft (IVG) über den Kauf von Geretsried.

Wohin aber mit den Vertriebenen: Das Barackenlager Buchberg kann, und das weiß Landrat Willy Thieme ebenso wie die anderen Behörden, nur eine Lösung auf Zeit sein. Die Münchner „Hilfsstelle für Flüchtlinge aus den Sudetengebieten" drängt auf den Bau von Häusern anstelle der Baracken.

Hans Tattermusch aus München, Gründer der Hilfsstelle und selbst Sudetendeutscher, bittet den Architekten Fritz Noppes, sich in Geretsried umzusehen. Noppes Entwürfe für Ein- und Zweifamilienhäuser, die sogenannten „Sudeten-Siedlungs-Häuschen" werden an die zuständigen Ministerien weitergeleitet. Außerdem wird die Gründung einer gemeinnützigen Baugenossenschaft angeregt - beides aber hat keinen Erfolg.

Noppes Baupläne rufen in Anbetracht der heutigen Siedlungsstruktur ein Lächeln hervor: Einstöckige Gebäude, mit flachem Dach und unterkellertem Schuppen. Im Wohnraum ist ein „Rauchtisch" vorgesehen und ein Klubsessel. Bad gibt es keines. Noppes gestaltet verschiedene Typen für Familiengrößen von vier bis acht Personen.

Angesichts der Weigerung der Amerikaner, die Besiedelung der ehemaligen Munitionsfabriken zuzulassen, verschwinden
die Skizzen aber bald wieder in der Schublade.

Und so beginnt die eigentliche Besiedelung von Geretsried auch nicht im Ortsteil Gartenberg, sondern im Süden: Die Chemiefabrik Rudolf & Co. wird am 8. Mai 1946, also einen Monat nach der Ankunft des ersten Trecks auf der Böhmwiese, auf das DSC-Gelände an der heutigen Altvaterstraße eingewiesen.

Firmenchef Ernst Schumann erinnert sich in einem Rundfunk-Interview zehn Jahre später: „Eingezogen sind wir in die Bunker, gewohnt haben wir zuerst im Hotel und dann haben wir die sogenannten Wohlfahrtsgebäude umgebaut.
Der Betrieb ist von den Amis mit Stacheldraht umgeben worden, weil wir der erste waren."

Zimperlich waren die Besatzer dabei nicht: „Wir mussten die Bäume, die bis zu den Gebäuden heranreichten, innerhalb 24 Stunden abholzen, und zwar in einer Breite von 20 Metern, sonst wären die Gebäude mit allem, was drin und drum ist, in die Luft gesprengt worden."

Der Anfang ist schwer, aber es lohnt sich. Noch einmal Ernst Schumann anno 1955: „Wir haben uns dann nach und nach entwickelt, haben uns dann immer erst die Arbeiter herangeholt, teilweise aus der Ostzone, und beschäftigen heute circa 80 Leute. Angefangen haben wir mit zwei Mann. Mein Sohn und ich waren die ersten, die hier gearbeitet haben. Das Risiko war natürlich seinerzeit groß,  wir wurden in Wolfratshausen für verrückt erklärt, dass wir heraus wollten."




Große Neugierde

Als Hans Herbrik mit 16 Jahren sein Elternhaus in der Slowakei verlässt, um in Deutschland sein Glück zu suchen, ahnt er nicht, dass sein Lebenslauf einmal aufs engste mit der Entstehungsgeschichte einer Stadt im bayerischen Oberland verknüpft sein wird. Heute (1996) kann sich der 73-Jährige „einen Geretsrieder der ersten Stunde" nennen.

Vom Aufbau der Rüstungsbetriebe über die Ankunft der ersten Heimatvertriebenen bis hin zum Aufbau der neuen Gemeinde hat er alles hautnah miterlebt. Es beginnt damit, dass der junge Herbrik im März 1941 als Arbeiter bei einer Firma für Blitzschutzanlagen immer wieder auf die Baustelle der Fabrik Wolfratshausen beordert wird.

„Im Januar 1944 bin ich dann endgültig hier hängengeblieben." Nachdem Herbrik eine Zeitlang in Wolfratshausen Unterkunft findet, richtet er sich nach Kriegsende im Wolfratshauser Forst so gut es geht eine leerstehende Baracke als Zuhause ein.

Arbeit bietet sich ihm auf der heutigen Böhmwiese: Zuerst werden die dortigen Baracken eines Lagers für ehemalige KZ-Häftlinge abgebaut, dann sollen sie auf Geheiß der Amerikaner wieder hergerichtet werden - zur Unterbringung deutscher Kriegsgefangener. „Wir bekamen damals vom Landratsamt auch ein warmes Mittagessen, das war uns das Wichtigste", so Herbrik.

Auch die Kriegsgefangenen verschwinden wieder, doch andere Fremde sollen schon bald ankommen. An den 7. April 1946 erinnert sich Herbrik ganz genau. Die Ankunft der ersten Heimatvertriebenen aus dem egerländischen Graslitz verfolgt er voller Neugier. Schließlich kann er sich als „Auslandsdeutscher" besonders gut in deren Lage versetzen.

„Man ist zu den Wagen hingegangen und hat sich die Neuankömmlinge angeschaut. Aber Kontakt hat man zu den Leuten keinen aufgenommen, man wusste ja nicht, ob sie überhaupt länger hier bleiben."

Sie bleiben, und schon bald schließt man erste Bekanntschaften. Ort der Begegnung ist das Lebensmittelgeschäft der Familie Low. Die ersten Freundschaften verdankt Hans Herbrik allerdings einem Unglücksfall. „Es war an einem Sonntag im Sommer 1949. Plötzlich habe ich aus dem Lager Rauch aufsteigen sehen. Mein Bruder und ich sind natürlich sofort losgerannt, um beim Löschen zu helfen."

Der Brand im Lager Buchberg ist die Geburtsstunde der Geretsrieder Feuerwehr. 20 Jahre lang ist Herbrik Zweiter -, fünf Jahre Erster Kommandant.

Andreas Steppan




Erster Aufschwung

„Ohne die Flüchtlingsgemeinde Geretsried hätte die große Gefahr bestanden, dass der Landkreis Wolfratshausen
zu einem ausgesprochenen Elendsgebiet geworden wäre." Uneingeschränkt positiv ist die Bilanz, die Landrat Dr. Karl Reichhold 1955 in einem Rundfunk-Interview zieht. In der Tat, mit der Ansiedlung ehemals sudetendeutscher Betriebe bildet Geretsried den Motor für den Wirtschaftsaufschwung des gesamten Landkreises.

Es ist vor allem ein Verdienst des von 1946 bis 1948 amtierenden Landrats Willy Thieme, dass die Ansiedlung der Chemiefirma Rudolf & Co. einen Monat später einen wahren Ansturm auf das brachliegende Gelände der einstigen Munitionsfabriken auslöst.

Auf Rudolf folgen die Mechanischen Werkstätten Golde (16. Juli), die Lampenfabrik Elektro-Kaiser (29. Juli), die chemisch-technische Fabrik Zimmermann & Co. (1. August), Filier & Fiebig, Fabrik für technische Zeichengeräte (12. September), das Maschinenbau-Unternehmen Dr. Arno Plauert (3. Dezember) und die Empe- Werke (16. Dezember).

Diese Auflistung macht schon deutlich, worauf es Landrat Thieme ankommt: auf Vielfalt. Vehement tritt der SPD-Politiker allen Tendenzen, vor allem der Flüchtlingsverbände, entgegen, das „Werk Wolfratshausen" oder die „Voralpenwerke", wie es später heißt, einer Branche zuzuschlagen.

Der weitblickende Thieme warnt schon damals davor, Monostrukturen zu bilden, die in Krisenzeiten enorm anfällig wären. So kann der Landrat auch verhindern, dass das riesige Gelände, wie es angedacht wird, von einem großen Waschmittelhersteller oder auch von der Filmindustrie („Klein-Babelsberg") belegt wird.

Die beinahe idealen Voraussetzungen, die die ehemaligen Muna-Werke mit ihrer ausgezeichneten Infrastruktur (Gebäude, 70 Kilometer Straßen, Bahnanschluß, Kanäle) bieten, sprechen sich schnell herum. Aber noch bremsen die Amerikaner: Bis 1947, bis zum Beginn des Kalten Krieges, haben die Besatzer das Ziel, den Wiederaufbau der deutschen Industrie zu blockieren.

Im ehemaligen DAG-Werk, dem heutigen Gartenberg, wird noch bis 1948 gesprengt. Für die Bewohner des Lagers Buchberg auf der heutigen Böhmwiese hat die Demontage auch ihr Gutes: Viele der mittellosen Flüchtlinge finden bei der Sprengfirma Best eine Arbeit, so zum Beispiel der Werkzeugmachermeister Anton Kahlert.

Er berichtet 1955 in einem Radiobeitrag, wie er und seine Kollegen entgegen des eigentlichen Auftrags etliche Bunker für eine zivile Nutzung retteten: „Ich kann mich noch an ein besonders schönes Gebäude erinnern, es war eine Art Kantine. Da habe ich gehört, wie ein Amerikaner gesagt hat, wenn bis morgen früh die Sache enttarnt ist, wenn die Erde und die Bäume herunter sind, und um den Bunker im Umkreis von 20 Meter die Bäume niedergesägt sind, bleibt das Gebäude erhalten."

Gesagt, getan: Die Neu-Geretsrieder helfen alle zusammen und entfernen in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Tarnung um den Bunker. Allerdings fordern die Amerikaner auch, dass das wiedergenutzte Gebäude komplett umzäunt wird. Zäune aber sind Mangelware, und so schneiden die Flüchtlinge von entlegenen Bereichen der Fabrik Zäune weg, um sie um die neuen Fabrikgebäude wieder zu errichten.




Enge auf dem Hof

Seit der Zeit des 30-jährigen Krieges steht der Hof der Familie Orterer an der heutigen Bundesstraße 11, die seit etlichen Jahrhunderten als Nord-Süd-Verbindung in Richtung Italien dient. Geretsried, diesen Namen trägt der kleine Weiler ebenfalls schon seit vielen Generationen. Fuchs und Hase sagten sich dort Gute Nacht, bis es mit dem kleinen Idyll 1939, als der Bau der Rüstungsfabriken im Wolfratshauser Forst begann, endgültig vorbei war.

Noch einschneidender für die Orterers ist allerdings der 7. April 1946. Doch davon ahnt der 32-jährige Georg Orterer noch nichts, als er an dem warmen Frühlingstag die Ankunft der ersten Heimatvertriebenen aus dem egerländischen Graslitz beobachtet.

Er ist sich noch nicht einmal bewusst, um was für Leute es sich handelt, die da zu Hunderten in einem langen Güterzug
aus Richtung Wolfratshausen herangeschafft werden. Dennoch hat die bemerkenswerte Szenerie jenes 7. April vor 50 Jahren bis heute (1996) einen tiefen Eindruck bei Georg Orterer hinterlassen.

Er erinnert sich: „Ich bin gerade von Wolfratshausen mit dem Radi heimgefahren, als ich den Zug gesehen habe. Er hat dann am heutigen Rathaus angehalten, und ich bin abgestiegen, weil mich interessiert hat, was da los ist."

Den folgenden Anblick wird Orterer nie vergessen: „Nach und nach sind die Menschen aus dem Zug rausgekommen." Der Landwirt beobachtet, wie sich die Flüchtlinge mit ihrem wenigen Gepäck zunächst einmal verloren am Straßenrand hinsetzen, um darauf zu warten, dass ihnen eine Unterkunft zugewiesen wird.

Damit der großen Zahl der Vertriebenen ein Dach über dem Kopf gegeben werden kann, müssen einige auch auf den umliegenden Bauernhöfen einquartiert werden. Der Orterer-Hof wird für die Familie Scherm - ein Ehepaar mit einem 10-jährigen Buben und einer 90j-ährigen Oma - zur vorläufigen Unterkunft. Für sie ist dies nicht die schlechteste Lösung, denn im Vergleich zu den heruntergekommenen Baracken im Lager Buchberg wohnen die Scherms nicht schlecht.

Für die Familie Orterer aber heißt es Zusammenrücken. Denn es wird immer enger auf dem Hof. Als in Geretsried die ersten Häuser gebaut werden, und die Kinder an der Adalbert-Stifter-Straße eine Schule bekommen, müssen Lehrkräfte und Bauarbeiter im näheren Umkreis untergebracht werden - die Orterers müssen nun noch einmal sechs Menschen unterbringen.

„Mir, meiner Frau und den beiden Kindern blieb nur noch ein Schlafzimmer und die Küche - und die mußten wir mit den
anderen teilen", berichtet Georg Orterer. Doch trotz der schwierigen Situation kommt man gut mit den „Gästen" aus. Herr Scherm legt als Zimmermann auf dem Hof mit Hand an, und auch seine Frau hilft fleißig im Stall mit. Die Heimatvertriebenen wiederum - nicht nur die Scherms - können jederzeit mit der Hilfe des Landwirtes rechnen.  Bereitwillig versorgt er sie mit Kartoffeln und mit Strohsäcken. Sie dienen den Bewohnern in den Baracken als Lagerstatt.

Das Verhältnis zu den Scherms ist sogar so gut, dass aus dem vorübergehenden Notquartier für die Flüchtlinge ein Zuhause für 20 Jahre wird: Der Zimmermann hatte solange gespart, bis er sich auf eigenem Grund und Boden selbst ein Haus bauen konnte. Ohne die Starthilfe der Familie Orterer wäre ihm dies kaum möglich gewesen.

Andreas Steppan




Sofortige Sprengung

„Besonders einladend wirkten die neuen Behausungen nicht gerade. Türen und Fenster waren weitgehend zerstört, elektrische Leitungen herausgerissen, und selbst die Dächer wiesen erhebliche Beschädigungen auf. Soweit Bettgestelle vorhanden waren, fehlten Matratzen, und Strohsäcke und Wasseranschlüsse sowie Toiletten waren ohnehin nie vorhanden gewesen."

Werner Sebb ist noch ein Jugendlicher, als er am 7. April 1946 mit dem ersten Flüchtlingstransport eintrifft. Seine Familie
und die anderen Vertriebenen fangen buchstäblich bei Null an, als sie sich in Lager Buchberg ein neues Zuhause einrichten.

Der Flüchtlingskommissar des Landkreises, Kraft, hält kurz nach ihrer Ankunft eine, wie sich Sebb erinnert, „zündende Rede, in der von Übergangslösung für längstens zwei Wochen und Unterbringung in festen Wohnungen die Rede war."

Kraft redet Unsinn: Erst nach dem verheerenden Lagerbrand am 3. April 1949, als zwei Baracken abbrennen und über zwei Dutzend Familien obdachlos werden, wird ernsthaft mit dem Bau von Wohnungen begonnen.

Ein weiteres brennendes Thema sind die Arbeitsplätze: Viele Flüchtlinge finden Anstellung bei den neugegründeten Betrieben, andere bei der Demontage der Rüstungswerke.

Auch die Amerikaner benötigen zivile Hilfskräfte: Die Neu-Geretsrieder werden morgens mit Lastwagen abgeholt und zur Arbeit in die Flint-Kaserne, die ursprüngliche SS-Junkerschule, nach Bad Tölz gebracht. Abends kehren sie „mit gefüllten Taschen und Konserveneimern" wieder heim, wie sich Werner Sebb erinnert.

Wieder andere finden eine Anstellung bei den jüdischen Displaced Persons, die von den Vereinten Nationen im Lager Föhrenwald, dem heutigen Waldram, untergebracht sind: Die Männer verdingen sich dort mit Holzhacken und Gartenarbeit, während die Frauen Wäsche waschen oder nähen.

Die parallel dazu einsetzende zügige Industrialisierung der „Voralpenwerke" stößt aber bei vielen alteingesessenen Bürgern auf Widerstand. Selbst im Kreistag werden Proteste laut: Eine Reihe von Kommunalpolitikern fordert unter dem Vorwand, die Wälder erhalten zu wollen, die sofortige komplette Sprengung der "Fabrik", um sich auf diese Weise der Flüchtlinge zu entledigen.

Aber selbst die Amerikaner, die bis zum Beginn des Kalten Krieges wenig Interesse an der Sicherung des Industriestandorts zeigen, ziehen da nicht mit. Der Chef der örtlichen Militärregierung, Captain Bird, sagt vor dem Kreistag, dass er hoffe, „dass auch die wenigen Gegner des weitschauend angelegten Siedlungsvorhabens in der Fabrik Wolfratshausen sich von der Notwendigkeit dieser Aufgabe überzeugen lassen".

Eine Reaktion auf diesen Appell hält Landrat Willy Thieme (SPD) kurz nach jener Kreistags-Sitzung in Händen. Er wird in einem Brief bezichtigt, als „Korsettstange des Chefs der Militärregierung" zu dienen.

Weiter heißt es in dem Schreiben: „Was das Alpenwerk anbelangt, dessen Weiterentwicklung nach wie vor sehr umstritten ist, muss ich aufrichtig bedauern, dass Sie aus Überschwang, jugendlicher Begeisterungsfähigkeit und aus Ehrgeiz zu weit gegangen sind, um ihr Ziel zu erreichen."

Thieme habe „einen viel zu großen Kreis der Interessenten auf das Werk gestoßen", mit der Folge, dass „nun das eigene Zimmer des ,Wohnhauses Kreis' übereignet wurde und der Kreis nun praktisch nicht einmal mehr den Schlüssel zu diesem Zimmer hat".

Im Juni 1948 wird Thieme vom Kreistag abgewählt. Neuer Landrat ist Dr. Karl Reichhold, CSU.




Särge zum Einstieg

Voller Hoffnung, aber ohne Besitz kommen die Vertriebenen im April 1946 in Geretsried an. Der Landkreis mit seiner landwirtschaftlich geprägten Struktur hat für die Menschen, die überwiegend aus Industriegebieten kommen, keine Arbeitsplätze.

Doch schon am 8. Mai 1946 bekommt Ernst Schumann die Erlaubnis, im Geretsrieder Süden die Chemiefabrik Rudolf & Co wiederzugründen. Zwei, die im Norden aus dem Nichts einen Betrieb aufbauen, sind  Heinz Lorenz und dessen Partner Franz Fleißner.

Heinz Lorenz, der aus dem nordböhmischen Leitmeritz stammt, arbeitet schon seit Kriegsbeginn als Konstrukteur bei BMW in München. Mittlerweile nach Berg am Starnberger See versetzt, lernt .der 29jährige im August 1945 Franz Fleißner aus Tachau kennen, der bei der Firma Schwarz Holzpropeller baut. Beide entschließen sich, eine Holzverarbeitungsfirma zu gründen.

Im April 1946 pachten die Jungunternehmer, die Schreinerei Schelle am Wolfratshauser Wasen. „Wir haben damit begonnen, Särge zu bauen", sagt Heinz Lorenz. „Holz, konnte man damals nur auf Schein kaufen und für Särge bekam man es ohne Probleme."

Clever weiten sie ihr Sortiment aus:„Wir machten die Särge einfach ein bisschen dünner und hatten dann Holz übrig für Lampenfüße oder Teller." Zehn Arbeiter hat der Betrieb, und in der Schreinerei wird es bald zu eng. Die beiden Geschäftsführer machen sich auf die Suche nach neuen Räumen.

Auf dem Gelände der ehemaligen Munitionsfabriken in Geretsried werden sie fündig. „Die Finanzierung war nicht einfach", erinnert sich Heinz Lorenz. „Ohne Sicherheiten waren die Banken nur schwer zu überzeugen."

Doch dank seiner Beziehungen zum Wirtschaftsministerium kommt er schließlich an amerikanisch verbürgte Kredite. Am 1. Oktober 1950 fällt in Geretsried der Startschuss.

Das sogenannte Wohlfahrtsgebäude, eine Art Kantine der ehemaligen Rüstungsfabriken, wird das Hauptverwaltungsgebäude der Lorenz GmbH. Ingenieur Heinz Lorenz baut die Maschinen für die Holzverarbeitung, sein Partner  Franz Fleißner kennt aus der Heimat die Fachleute, die diese bedienen können.

Es gelingt Zuzugsgenehmigungen für 35 Tachauer Familien bei der amerikanischen Militärregierung zu bekommen. Wie er das geschafft hat? „Beziehungen", sagt der heute 80-jährige Heinz Lorenz und grinst: „Ich kannte da ein paar  Sekretärinnen. Auch ich war mal jung.. .".

Die Tachauer ziehen ins Rathaus ein, für 16 Arbeiter-Familien kauft Lorenz zwei Baracken am Isar-Loisach-Kanal. „Doch so einfach, wie es sich anhört, ging das nicht. Man musste schmieren." Bestochen wird mit Lampenfüßen und  Holzschachteln - Sachwerte, die Lorenz und sein Partner produzieren.

Der neue Betrieb läuft gut, das Sortiment ändert sich abermals: Auf den selbstkonstruierten Maschinen wie Würfelpressen und Drehautomaten wird vor allem Holzspielzeug produziert. Heinz Lorenz fährt auf Spielwarenmessen. 1949 stellt er noch auf einem kleinen, eineinhalb Meter langen Tisch seine Produkte aus. „Im nächsten Jahr hatte ich mich schon um 100 Prozent gesteigert - ich hatte dann einen drei Meter langen Tisch."

Lorenz entdeckt bald das Ausland als Exportmarkt, seine erste Reise führt ihn Anfang der 50-er Jahre nach Holland. Doch deutsche Geschäftsleute sind keine gern gesehenen Besucher: „Mein Auto wurde zerkratzt, man war noch sehr unbeliebt."

1954/55 baut die Firma Lorenz für ihre Arbeiter-Familien eine Häusersiedlung rund um den Geltinger Weg. 3000 Mark Eigenkapital müssen die Arbeiter für die rund 1000 Quadratmeter großen Grundstücke mitbringen. 20 000 bis 25 000 Mark kostet ein Einfamilienhaus.

Andreas Tazl




Die Schneckenpost

Der Landkreis Wolfratshausen mit seinem für die Flüchtlingsbetreuung geschaffenen „Referat X" schafft ab Frühjahr 1946 mit großem Weitblick die planerischen Voraussetzungen für die heutige Stadt Geretsried. Die dadurch gebotenen Möglichkeiten nutzen müssen die Heimatvertriebenen selbst:

Mit großem Engagement bauen sie eine umfassende Infrastruktur auf, mit Schule, Geschäften und allem, was zu einem Gemeinwesen gehört. Vorrangig für die etwa 350 Kinder der Flüchtlingsfamilien, die im Lager Buchberg und im heutigen Rathaus leben, ist natürlich die schulische Bildung.

Werner Sebb erinnert sich: „Mit Schulbeginn Anfang September traf uns die Schulpflicht mit voller Wucht; damit ging für nicht wenige Kinder eine zum Teil eineinhalb]ährige Absenz zu Ende." Die Lagerkinder müssen in die Volksschule im 5,5 Kilometer entfernten Wolfratshausen. Der Weg ist weit, Schulbusse sind noch völlig unbekannt, aber die Kinder dürfen die ehemalige Werksbahn mitbenutzen.

Die Züge auf dem heutigen Industriegleis verkehren noch bis in die 60-er Jahre zur Personenbeförderung zwischen Wolfratshausen und Geretsried. Ein Problem allerdings: Die Unterrichtszeiten und der Zugfahrplan passen nicht zusammen.

Also haben die Kinder insbesondere bei Stundenplan-Änderungen vier Möglichkeiten, nach Hause zu kommen: Entweder sie warten auf den Zug oder sie gehen zu Fuß oder sie versuchen per Anhalter von einem der wenigen Privatwagen mitgenommen zu werden. Oder - und das ist am beliebtesten - sie fahren mit der „Schneckenpost", einem ehemaligen Wehrmachtsfahrzeug, das Arbeitskräfte zwischen Wolfratshausen und den einstigen Munitionsfabriken hin- und herfährt.

Aber die Entfernung ist nicht das größte Problem der Kinder, gravierender ist die Raumnot in der Wolfratshauser Schule. Das ehemalige Gästehaus der Deutschen Sprengchemie (heute Altenheim St. Hedwig) wird schließlich nach den Plänen
von Architekt Fritz Noppes für den Unterricht umgebaut und zum Jahreswechsel 1947/48 in Betrieb genommen.

Noch einmal Werner Sebb: „Ich erinnere mich noch gut an die unglaublichen Verhältnisse während der ersten Wochen. Nicht nur, dass wir anstelle von Schulmöbeln mit Wirtshaustischen und -bänken vorlieb nehmen mussten, Im Laufe der Zeit normalisiert sich das Leben der Heimatvertriebenen in Geretsried. Erst im Lager Buchberg, später in den ehemaligen Bunker-Gebäuden werden Geschäfte eröffnet.

Wichtig für die Menschen im Lager ist aber auch die Verbesserung der Versorgungslage. Ehemalige Geschäftsleute aus dem Sudetenland machen sich in ihrer neuen Heimat wieder selbständig: Noch im Jahr 1946 entstehen eine Brot- und Milchausgabestelle, aus der später ein Lebensmittelladen wird (Josef Low), ein Eisen- und Haushaltswarengeschäft (Josef Deimer) wird gegründet.

Der Metzger und spätere Gastwirt Karl Tschannnerl verkauft Fleisch, und in den Seitentrakt des künftigen Rathauses (heute Ratsstuben) kommen ein weiterer Lebensmittelladen (Felix Schwab) und ein Gemüsegeschäft (Franz Tobisch). In der ehemaligen Küchenbaracke des Lagers wiederum richtet sich der Gastwirt Bruno Böhm ein - bald der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens.




Geistlicher Beistand

Not leiden die Geretsrieder Neubürger bei ihrer Ankunft im Lager Buchberg in vielerlei Hinsicht, auch am geistlichen Beistand fehlt es in den ersten Monaten - aber nicht lange: Das Pfarramt Wolfratshausen übernimmt sehr bald die Betreuung der überwiegend katholischen Heimatvertriebenen; der Kooperator Sebastian Kampfl hält regelmäßige Gottesdienste für die Lagerbewohner ab.

Als Kirchenräume dienen der heutige kleine Sitzungssaal und später auch die Vorhalle des Rathauses und einstigen DAG-Verwaltungsgebäudes. Lagerbewohner Werner Sebb erinnert sich daran, dass das damals noch vorhandene Hitler-Relief an der Nordseite des Foyers - US-Soldaten hatten es als Zielscheibe verwendet - mit Altartüchern zugedeckt wurde.

Die evangelische Kirche war schon vor Ankunft der ersten Heimatvertriebenen im Lager aktiv. Unter Aufsicht der Amerikaner hielt der Wolfratshauser Pfarrer Georg Weber bereits am 8. Juli 1945 vor deutschen Kriegsgefangenen einen Gottesdienst ab. Das geht bis Herbst, als das Gefangenenlager aufgelöst wird.

Pfarrer Weber sorgt nicht nur für geistlichen Beistand, er fungiert auch als Postbote, in dem er Briefe aus und in das Lager schmuggelt. Die Flüchtlinge, die 1946 kommen, müssen indes einen weiten Weg zur Kirche nach Wolfratshausen in Kauf nehmen.

Sie gehen zu Fuß, viele sind barfuß. Erst am 15. August 1948 bekommen die evangelischen Christen einen Kirchenraum zugewiesen, in der Behelfsschule, dem heutigen Altenheim St. Hedwig. Die erste feste Kirche wird im Jahr der Gemeindegründung, 1950, ausgebaut - in der späteren Isarau-Gaststätte.

Zu dieser Zeit wird auch eine katholische Pfarrkuratie eingerichtet: Pfarrverweser ist der aus Schlesien stammende Pfarrer Alois Heske. Kirchenrechtlich eine schwierige Situation: Heske ist offiziell noch Pfarrer im schlesischen Bielau. Da er keine zwei Pfarreien gleichzeitig betreuen darf, wird das Geretsrieder Pfarramt nicht selbständig.

Die Messen werden im heutigen Rathaus und im Altenheim gelesen. Aber schon im gleichen Jahr wird ein Bunker im  Süden zur Kirche umgebaut und ein weiterer in Gartenberg am Kirchplatz.




Eine neue Stadt

Auch wenn die jüngere Generation heute mit seinem Namen kaum noch etwas anfangen kann, seine Verdienste um Geretsried werden unvergessen bleiben: Architekt Fritz Noppes startet 1946, nach der Vertreibung aus seiner Heimat Eichenberg (im Sudetenland), in Geretsried eine zweite Karriere, und er plante eine ganze Stadt.

Schon als junger Architekt macht sich Noppes, Jahrgang 1885, mit einigen 1. Preisen bei renommierten Wettbewerben in seiner Heimat einen guten Namen. Der Sudetendeutsche wird 1945 mit seiner Familie in den Westen ausgesiedelt. Über die „Hilfsstelle für Flüchtlinge aus den Sudetengebieten" wird er auf Geretsried aufmerksam.

Unentgeltlich fertigt er im Januar 1946 auf Butterbrot-Papier Skizzen für „Sudeten-Siedlungs-Häuschen" und wird fortan von den Behörden immer wieder zu Rate gezogen. Nur der gewünschte Umzug nach Geretsried bleibt ihm versagt:

Nach einem kurzen Aufenthalt in der von den Vereinten Nationen verwalteten ehemaligen jüdischen Schule in Wolfratshausen (an der Rückseite des heutigen AWO-Heims) und im Pfarrhof, findet die Familie in Ebenhausen ein neues Zuhause:

Noppes' Engagement für Geretsried wird dadurch indes nicht beeinträchtigt. 1949 entwirft er einen Wirtschaftsplan für Geretsried, in dem die künftige Entwicklung der ein Jahr später selbständigen Gemeinde vorgezeichnet ist: Zwei Ortsteile mit Industriegebleten verbunden durch eine Hauptstraße und im geografischen Zentrum der Friedhof.

Nur in einem Punkt geht die Planung nicht auf: Das Lager Föhrenwald, heute Waldram, kommt zu Wolfratshausen  und nicht zu Geretsried. Der Tatendrang des über 60-Jährigen ist beinahe grenzenlos: In einem Artikel „Raumplanung" schreibt Noppes anlässlich der Gemeindegründung 1950:

„Unter Anpassung an die Gegebenheiten wirtschaftlicher und technischer Natur hat die Raumplanung die Gemeinde Geretsried im Idealbild aufgebaut. Gelingt es, dieses Bild Wirklichkeit werden zu lassen, so wird eine Gemeinde entstehen, deren äußerer Rahmen von dem der bäuerlichen Gemeinden des Landkreises zwar verschieden ist, an Eigenart und Harmonie hinter diesen jedoch nicht zurückstehen wird."

Im selben Artikel fordert Noppes eine Neutrassierung der B 11, die „notwendigerweise an das sogenannte Schwaigwallplateau verlegt werden muss" und den Bau einer Kirche gegenüber des Rathauses. Dazu kommt es nicht: Der Architekt plant selber die Gestaltung des Karl-Lederer-Platzes und auch des Neuen Platzes.

Auch die (alte) Adalbert-Stifter-Schule, ganze Siedlungen der 1950 gegründeten Baugenossenschaft, viele Privathäuser, der Waldfriedhof,das Isarau-Stadion und zuletzt das Hallenbad entstehen auf dem Reißbrett des Ortsplaners. „Sein Lebensziel hat der stets kreative Architekt erreicht", würdigte der damalige Bürgermeister Heinz Schneiders im Februar 1982die Verdienste des im Alter von 86 Jahren verstorbenen Noppes.




Steine sammeln

„Die Frauen fingen an zu weinen, und wir Kinder weinten mit." Dies ist eine der ersten Erinnerungen der damals zehnjährigen Sonja Gruber an die Ankunft im Lager Buchberg am 7. April 1946. So strapaziös wie die Flucht aus dem Städtchen Graslitz, so mühsam ist auch der Neuanfang in der neuen Heimat Geretsried.

Als der Zug mit den 554 Vertriebenen am Ostersonntag endgültig anhält, sind alle Insassen erleichtert. Nach der anstrengenden tagelangen Fahrt wartet man sehnsüchtig auf Bewegung in frischer Luft und hofft darauf, mit der Familie irgendwo eine neue Bleibe zu finden.

Sehr bald  wird den Flüchtlingen aber klar, dass die Unterkunft für die nächste Zeit das Barackenlager Buchberg sein wird - so auch für Sonja Gruber, geborene Wilfert, und ihre Familie. Sie haben schon eine Woche Sammellager in einer Fabrikhalle in Graslitz hinter sich, wo sich die Zehnjährige mit ihren Geschwistern (5 und 15 Jahre) ganz fest an Mutter und Großmutter klammert - „um nicht verloren zu gehen".

Der Vater war aus dem Krieg nicht zurückgekehrt. Im Lager Buchberg sind 14 Personen aus drei Familien in einem Raum untergebracht; es gibt keine Kochgelegenheit, nur ein paar „Ami-Betten". Zuerst wird von der Lagerküche aus die Versorgung organisiert.

„Dann haben wir Kinder draußen Steine gesucht und eine Feuerstelle aufgebaut, so dass Mutter oder Großmutter mit den wenigen Töpfen, die wir mitgebracht hatten, etwas kochen konnten", erinnert sich Sonja Gruber. Gehungert habe sie „nicht direkt".

Die Mutter habe auf den Bauerhöfen in der Umgebung immer wieder etwas „gehamstert" - auch, wenn der Empfang dort ab und an nicht sehr freundlich war: Es kamen eben ständig „welche aus dem Lager zum Betteln".

„Wir Kinder", so erzählt die heute (1996) 60-Jährige weiter, „sind nach der Ernte auch auf die Felder von Gut Schwaigwall zum Nachklauben von Kartoffeln und Getreide gegangen". Letzteres wird in der Kaffeemühle gemahlen und in einer mit Bienenwachs ausgewischten Pfanne zu Kornkücheln heraus gebacken - „eben echte Natur- und Vollwertkost."

Einige Wochen geht Sonja Gruber nach Gelting in die Schule, danach drei Jahre in die Volksschule nach Wolfratshausen und zuletzt ein Jahr in die Klosterschule (neben der Pfarrkirche). Lebendig ist die Erinnerung an Rektor Karl Kugler, der mit seiner Familie im Herbst 1946 nach Geretsried kommt.

Der Vollblutmusiker nimmt sich der Kinder an, singt mit ihnen und studiert kleine Krippen- und Theaterstücke ein. Er hat eine Engelsgeduld. Sonja Gruber: „Wir waren natürlich nicht gerade Musterkinder. Wenn wir schwätzten und kicherten, unterbrach Herr Kugler das Singen und forderte uns auf, uns erst einmal auszulachen." Aus diesen ersten Anfängen entstehen 1951 die Chorvereinigung und die Egerländer Gmoi.

Auf die Frage nach besonderen Erlebnissen im Lager fällt Gruber sofort der Lagerbrand im Sommer 1948 ein: „Ich warf in Panik alles zum Fenster hinaus und dachte nicht daran, wie leicht unsere wenigen Habseligkeiten hätten Feuer fangen können."

Gelegentlich gibt es auch ein Hochwasser. Der Schwaigwaller Bach tritt über die Ufer, das Wasser steht bis zu den Eingangsstufen. „Wir hatten schulfrei und freuten uns, als unser Nachbar Paulus einen Kahn zusammenbaute und wir vor den Baracken Schifferl fahren konnten."

In guter Erinnerung sind auch die Care-Pakete aus Amerika, die von der Lagerleitung verteilt werden. Sie enthalten Gebrauchtkleidung, gelegentlich Kekse oder eine Tafel Schokolade.

Eine arge Plage sind die Wanzen: „Sie waren in allen  Ritzen der Wände und zwischen Segeltuchbespannung und Holzgestell der Betten. Wir wachten morgens auf und waren total zerbissen. Von Zeit zu Zeit wurde Gas in die Baracken gesprüht. Wenn wir abends wieder hinein durften, hat es immer noch arg gerochen. Wenn ich so nachdenke, was wir damals eingeatmet haben . . ."

Mit 14 verdient sich Sonja in der Nähstube im Lager ihr erstes Geld („Für ein Hemd bekamen wir 50 Pfennige"), später findet sie Arbeit in der Schokoladenfabrik Kneisl. Inzwischen ist die Familie in einen der ersten Wohnblöcke am Kirchplatz eingezogen - vier Jahre nach der Ankunft im Lager beginnt sich das Leben zu normalisieren.

Wolftrud Nahr




Musik, Tanz, Flieger

Es ist die Generation der heute (1996) 70-Jährigen, die durch den Zweiten Weltkrieg ihrer Jugend beraubt wurde.
Anstatt in die Schule müssen die jungen Burschen an die Front; zurück aus Krieg und Gefangenschaft werden viele mit ihren Familien aus der angestammten Heimat vertrieben. Ein solches Schicksal erlitt auch der inzwischen im Ruhestand lebende Diplom-Physiker Karl Kugler, der im Sommer 1946 mit einem der ersten Züge nach Geretsried kam.

Als 17-Jähriger wird Kugler zur Flak geholt, mit 18 darf der Gymnasiast das „Kriegsabitur" machen, mit 19 wird er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Kurz darauf, im Oktober 1945, flüchtet er mit Mutter und Geschwistern aus dem  egerländischen Tachau nach Westen - um der Zwangsarbeit im Kohlebergwerk zu entgehen.

Im Westen winkt die Freiheit, aber die Probleme sind groß: Als der Vater nachkommt, ist in Amberg kein Zuzug mehr möglich. Von Landsleuten erfahren die Kuglers, dass nahe Wolfratshausen, auf dem Gelände einer Rüstungsfabrik, die Tachauer Holzindustrie wieder aufleben soll.

Die fünfköpfige Familie übersiedelt ins Isartal. Im Verwaltungsgebäude (heutiges Rathaus) wird ihnen ein „Loch" (Kugler) von 10 Quadratmeter zugewiesen. „Es war so eng, dass immer eine Person zur Nachbarfamilie Effenberger schlafen ging. Und im Sommer schlief ich auf dem Dachboden."

Bei einer Dorfener Holzwarenerzeugung bekommt Kugler einen Job, Heimarbeit. Nach Mustern, die Julius Schmidt, der spätere Dirigent der Chorvereinigung, entworfen hat, bemalt er Holzteller und -dosen mit Temperafarben. Die Nachfrage ist groß: „Ich habe massenhaft gemalt, selbst als ich einmal im Krankenhaus lag."

Vater Karl Kugler sen., Sonderschullehrer aus Tachau, trommelt alle zusammen, „die musizieren können", schreibt Notensätze und geht mit der Theatergruppe aus Föhrenwald auf Tournee - bis nach Norddeutschland.

Der Pädagoge ist ein „Glücksfall" für das Lager, initiiert er doch mit bewundernswerter Tatkraft von Anfang an kulturelles Leben. Mit den Erwachsenen wird musiziert, mit den Kindern gesungen und getanzt.

Sohn Karl organisiert indes für die Lagerjugend eine Modellbaugruppe; sie wird auch vom Flüchtlingsamt unterstützt. Erste Flugzeugmodelle entstehen im Keller des Verwaltungsgebäudes. „Die Buben lernten anhand der Pläne technische Zeichnungen lesen."

Selbstgemalt sind die Plakate für das „1. Vergleichsfliegen für Segelflugmodelle" in Osterhofen. Aus heutiger Sicht zum Lachen ist ein Konflikt mit der amerikanischen Militärregierung. Sie leitet gegen Karl Kugler und Erwin Rosnitschek
ein Verfahren wegen „militaristischer Betätigung" ein. Verhöre finden statt, zuletzt aber werden die Ermittlungen eingestellt.

Für die Mädchen im Lager gibt es eine Nähstube: Neben Flickarbeiten werden dort die ersten Trachtenhosen genäht für die Tanzgruppe. Im Jahr 1947 bekommt Karl Kugler jun. vom Vater die Anregung, Osterratschen anzufertigen, „um an den Ostertagen etwas auf die Beine zu stellen".

Aus Munitionskisten werden die Rahmen gefertigt, die Rillen für die Walzen ganz grob mit dem Stemmeisen von Hand gemacht. Sofort gibt es Nachahmer aus den Reihen der Tachauer Holzfachleute. Und so können die „Ratsch'nboum" nach heimatlichem Brauch erstmals mit Getöse rund ums Verwaltungsgebäude ziehen.

60 Jahre danach wünscht sich Karl Kugler, der seit vielen Jahren mit anderen Idealisten das im Rathaus sehr beengt  untergebrachte Heimatmuseum betreut, dass die schon lange vorliegenden Museumspläne endlich realisiert werden - damit die Erinnerungen an Vertreibung und Neubeginn für die späteren Generationen nicht verloren gehen.

Wolftrud Nahr




Nichts vergessen

„Es tut heute noch weh", sagt Wilma Vesper. Wenn sich die Geretsriederin an ihre Vertreibung aus der Tschechoslowakei vor 50 Jahren erinnert, hat sie noch immer Mühe, ihrer Gefühle Herr zu werden. Die Sehnsucht nach ihrer egerländischen Heimat ist ihr über die Jahre hinweg geblieben: „Ich liebe das Land über alles."

Dabei sind die letzten Erinnerungen an das Leben im Kreis Eger alles andere als positiv. Nach dem Krieg werden die Deutschstämmigen von tschechischer Seite regelrecht schikaniert. Und dann kommt der 28. April 1946: Ganz kurzfristig erhalten die Deutschen die Mitteilung, dass sie das Land zu verlassen haben.

„Zwei, drei Stunden - mehr Zeit blieb uns nicht, um unsere Sachen zusammenzupacken - vor der Abreise werden die maximal erlaubten 50 Kilogramm Gepäck noch einmal einer strengen Prüfung durch tschechische Kommissare unterzogen. „Alles, was denen gefallen hat, haben sie beschlagnahmt."

Ihren schönen Muff, in dem sie einige Kettchen versteckt hält, kann die damals 17-Jährige nicht rausschmuggeln. Dann geht es mit dem Lkw ins 25 Kilometer entfernte Eger, von dort aus werden die Vertriebenen in Viehwaggons nach Süddeutschland gebracht. Keine angenehme Reise für Wilma Vesper: „Die Türen der Waggons ließen sich nicht richtig schließen. Und da waren so viele alte Leute - da habe ich als junges Mädchen eben direkt an der Tür schlafen müssen."

Im Landkreis Wolfratshausen hat man Mühe, für diesen Transport noch Unterkünfte zu finden: Das Lager Buchberg ist voll belegt. So werden die Egerländer auf die Dörfer verteilt. Wilma Vesper und ihre Mutter verschlägt es nach Münsing. „Da standen wir vor dem Gasthaus ,Altwirt', mit unseren wenigen Habseligkeiten, und die Leute kamen und haben uns bestaunt."

Wie auf einem Viehmarkt sei sie sich vorgekommen, als ein Bauer sagte: „Ich nehm' die beiden Weiber, die machen einen guten Eindruck." Trotz aller Beschwerlichkeiten - es geht aufwärts.

Schon bald findet Wilma Vesper eine Anstellung bei einem Wolfratshauser Verlag und lernt ihren späteren Ehemann Erhard kennen, einen Schlesier, den es nach der Kriegsgefangenschaft nach Münsing verschlagen hat. Mit ihm zusammen zieht sie Silvester 1949 in einen der ersten Wohnblocks in Geretsried. 1952 baut sich das Ehepaar am Martin-Luther- Weg sein eigenes Haus.

Andreas Steppan




Schwarzer Sonntag

Alteingesessene Geretsrieder kennen den Begriff „Schwarzer Sonntag" noch heute. Der schwarze Sonntag war der 3. Juli 1949, der Tag der Brandkatastrophe im Lager Buchberg - aber auch der Tag, an dem sich endlich auch der Staat, über drei Jahre nach ihrer Ankunft, der Flüchtlinge erinnerte und ein großes Wohnungsbau-Programm in Angriff nahm. Und schließlich war das Großfeuer auch Auslöser für die Gründung der Feuerwehr.

Ein Jahr später wurde das Lager vollständig aufgelöst.

Der 3. Juli 1949 ist ein heißer Tag. Gegen 14 Uhr bemerken mehrere Lagerbewohner fast zeitgleich, wie aus der zweiten Baracke in der linken Reihe dicker Rauch aufsteigt. Sie rufen „Feuer, Feuer" - aber es ist schon zu spät. Die Baracke Nummer 9 brennt lichterloh, schnell greift das Feuer auf zwei weitere Gebäude über.

Die Kriminalpolizei rekonstruiert den Hergang des Unglücks später so: In einem Hohlraum zwischen der Barackendecke und der Blechverkleidung eines Ofenkamins war es infolge auch der hohen Außentemperaturen zu einer Funkenbildung gekommen - die Wand fing sofort Feuer.

Das trockene Holz brennt wie Zunder. Die Bewohner der Baracke haben nicht einmal mehr die Zeit, ihre wenigen Habseligkeiten ins Freie zu schaffen: Einige der etwa zwei Dutzend Familien, die durch das Feuer obdachlos werden, besitzen tatsächlich nur noch die Kleider, die sie am Leib tragen.

Zum zweiten Mal in drei Jahren verlieren sie alles, was sie besitzen.

Bemerkbar macht sich auch das Fehlen einer eigenen Feuerwehr. Bis die Brandbekämpfer aus Gelting, Wolfratshausen und Königsdorf endlich eintreffen, behelfen sich die Lagerbewohner mit primitiven Mitteln, sprich mit Eimerketten und mit Hand-Feuerlöschern - aber der Erfolg ist gering.

Kein Wunder also, dass die Forderung nach der Gründung einer eigenen Feuerwehr laut wird - und auch von staatlicher Seite erhört wird. Kommandant der Lagerfeuerwehr, die mit einer tragbaren Motorspritze ausgerüstet wird, ist der   Geltinger Lehrer Josef Kriegisteiner.

1951 löst ihn Ernst Schwägerl ab. Noch am Brandtag erscheint Landrat Karl Reichhold mit einer hochrangigen Delegation, zu der auch der amerikanische Hochkommissar gehört, im Lager. Zur Linderung der größten Not stellt der Kreis 1000 Mark  zur Verfügung.

Die Arbeiterwohlfahrt schickt aus München einen Lkw mit Decken und anderen Hilfsgütern. Auch das Rote Kreuz verteilt Kleider, Wäsche und Lebensmittel. Die obdachlos gewordenen Familien bekommen Notunterkünfte unter anderem auf Gut Schwaigwall und Gut Buchberg.

Die Solidarität der Lagerbewohner sorgt dafür, dass auch von den nicht gerade wohlhabenden Flüchtlingen einiges an Hilfe kommt. Zu allem Unglück hat die Staatsregierung im Jahr 1948 die Feuer-Versicherung nicht verlängert, so dass der Freistaat auch selbst in der Pflicht steht: Er stellt 40 000 Mark für die Betroffenen zur Verfügung.

Der Brand hat indes auch sein Gutes: Die Dringlichkeit des seit 1948 diskutierten Wohnbau-Programms wird endlich erkannt. 116 Wohnungen gelten, wie Landrat Reichhold im Kreistag sagt, als besonders vordringlich, langfristig sind 1500 Wohnungen geplant.

Die ersten 32 Wohnungen am Kirchplatz können noch vor Weihnachten 1949 bezogen werden. Südlich davon, an der Kolbenheyerstraße, werden anschließend acht weitere Blöcke gebaut (92 Wohnungen), die bis Mitte Juni, zur Gemeindegründung, fertiggestellt sind.

Der Komfort ist gering: Es gibt weder Bad noch Heizung. Fast gleichzeitig entstehen an der Egerlandstraße (südlich der heutigen Petruskirche) 14 Ein- und Zweifamilienhäuser, die so genannten „Schwarzhäuser". Sie werden von den Bewohnern zu sehr günstigen Konditionen erworben.




Meinl weltweit

Das böhmische Graslitz ist bis zum Zweiten Weltkrieg ein weltbekanntes Zentrum der Produktion von Blechblasinstrumenten. Viele Graslitzer kommen durch die Vertreibung nach Geretsried, und die Musikinstrumentenindustrie erwacht hier zu neuem Leben. 1948 fangen Wilhelm Böhm und Andreas Meinl als erste in Gartenberg neu an. Mit vier Firmen ist die Wiederbelebung dieses Graslitzer Industriezweigs gelungen.

Am 15. Juni 1946 kommt Andreas Meinl mit seiner Familie am Wolfratshauser Bahnhof an. In seiner Heimatstadt Graslitz hatte Meinl für eine Instrumentenfabrik gearbeitet.

Karl Lederer, der spätere Bürgermeister Geretsrieds, stammt auch aus Graslitz. „Er hat meinem Vater den Floh ins Ohr gesetzt", erzählt Gerhard Meinl, Sohn des Firmengründers. „Lederer sagte zu ihm: Die Fachleute sind da, aber sie haben keine Arbeit - warum macht ihr euch nicht selbständig?"

Am 1. November 1946 ist es soweit: Die Firma Böhm & Meinl, die heute „B & M Symphonik" heißt, wird gegründet. Das Geld dafür kommt von der Landesanstalt für Aufbaufinanzierung. Aber aller Anfang ist schwer: „Nach dem Krieg hatte niemand Interesse an Instrumenten", erinnert sich Meinl, „die Leute hatten andere Probleme."

Böhm & Meinl richten sich in einer Garage ein; zunächst werden Instrumente nur repariert. Dann geht es aufwärts: Vier Jahre später beginnt die Produktion in einem Bunker an der St.-Hubertus-Straße. Von Hand werden hier Blasinstrumente hergestellt. Meinl frischt Geschäftsverbindungen zu alten Kunden seiner Graslitzer Firma auf; gerade in den USA ist die Nachfrage groß.

An Arbeitskräften fehlt es nicht: Viele Graslitzer sind froh, in ihrem alten Beruf arbeiten zu können. Anfang der 50er Jahre beschäftigen Böhm & Meinl bereits knapp zwei Dutzend Mitarbeiter.

Zur gleichen Zeit, im Jahr 1953, kommt die Firma Meinlschmidt nach Geretsried. Seit 1866 hat sie in Graslitz Zylinderventile für Blechblasinstrumente hergestellt. Nach der Enteignung 1946 verlässt Firmeninhaber Josef Meinlschmidt zwei Jahre später die Stadt.

„Mein Vater wollte schon früher raus", erinnert sich Sohn Herbert, der jetzt das Unternehmen leitet. „Aber die Tschechen brauchten ihn noch als Betriebsleiter." 1948 geht Meinlschmidt nach Marienborn bei Mainz, wo er in einem ehemaligen Tanzsaal die Instrumentenproduktion aufnimmt. Finanziert wird der Aufbau durch den Marshall-Plan:

Die Amerikaner gewähren zinsgünstige Kredite. Karl Lederer wird 1950 Bürgermeister in Geretsried. „Mein Vater kannte ihn von früher", erzählt Herbert Meinlschmidt. „Er bot uns Grund und Boden zu günstigen Bedingungen an." 1953 dann der Umzug: „Wir kamen mit 11 Familien, alles Graslitzer", so Herbert Meinlschmidt.

Der Aufschwung beginnt: Der Dollar steht gut, und die Firma bekommt viele Aufträge aus Amerika. Die handgemachten Zylinder sind noch heute weltweit sehr begehrt.

Anfang der 50er Jahre startet in Geretsried auch Wenzel Meinl. 1949 hatte Meinl zunächst in Königsdorf-Osterhofen den Neuanfang gewagt. Im selben Jahr kommt Neffe Franz aus der Kriegsgefangenschaft nach Lenggries. „Er las dann im Merkur, dass sein Onkel Wenzel sich selbständig gemacht hatte," so erinnert sich dessen Sohn, Ewald Meinl. Franz Meinl nimmt das Angebot seines Onkels an und arbeitet für ihn: Er stellt Schallstücke für Blechblasinstrumente her.

1951 zieht Wenzel Meinl nach Geretsried. Fünf Jahre später verlässt Franz Meinl das Familienunternehmen am Seniweg (heutiger Eigentümer ist Gerhard A. Meinl) und gründet zusammen mit Johann Lauber die Firma Lauber & Meinl und produziert selbst Schallstücke. Seit den 60er Jahren werden auch am Lerchenweg historische Instrumente angefertigt. Jetzt heißt die Firma „Ewald Meinl Musikinstrumentenbau".

Käzia Nipperdey




Die neue Gemeinde

Am 24. Juni 1950 wird für die über 2000 Vertriebenen auf dem Gelände der ehemaligen Munitionsfabriken DAG und DSC ein Traum wahr: Mit einer großen Feier begehen sie die Gründung ihrer Gemeinde. 92 Prozent der bis dahin von Gelting und Königsdorf mitverwalteten Neubürger hatten sich bei einer Volksabstimmung für ein eigenes Gemeinwesen ausgesprochen. Damit wurde Geretsried vier Jahre nach Ankunft der ersten Flüchtlinge am 8. April 1946 selbständige.

„Die Gründung einer Flüchtlingsgemeinde ist ein freudiges Ereignis, an dem das ganze Land teilnimmt. Ist es doch ein bemerkenswertes Zeichen der fortschreitenden Einwurzelung und Beheimatung der Flüchtlinge in unserem bayerischen Gemeinden heranwachsen."

Diese Sätze schreibt der bayerische Ministerpräsident Dr. Hans Erhard den Geretsriedern im Juni 1950 in ihr Stammbuch und demonstriert das Wohlwollen, mit dem die Staatsregierung die Autonomiepläne der Gartenberger Heimatvertriebenen bis dahin schon begleitet hat.

Treibende Kraft für die Gründung der Gemeinde ist Karl Lederer. Der gebürtige Graslitzer, der nach der Entlassung
aus der Kriegsgefangenschaft seiner Familie ins Lager Buchberg folgt, wird 1947 in den Geltinger Gemeinderat gewählt und zum Stellvertreter von Bürgermeister Graf ernannt. Er macht sich schon in diesen Anfangsjahren sehr um die Integration von Alt- und Neubürgern verdient.

Erstmals schreibt Landrat Willy Thieme am 28. April 1948 in einer internen Anweisung, dass „die Ansiedlung von Firmen und Privatpersonen in den Voralpenwerken einen Umfang erreicht hat, der es nötig macht, an die Gründung einer selbständigen Gemeinde zu gehen". Im Februar 1949 legen Lederer und seine Mitstreiter der Regierung von Oberbayem und anderen staatlichen Stellen eine künftige Ortsplanung von Geretsried vor.

Ein gutes Jahr später, am 29. April 1950, erläßt das Innenministerium eine Entschließung zur Gründung der Flüchtlingsgemeinde und setzt sich dabei auch mit einer möglichen Teilung in einen nördlichen und einen südlichen Bereich auseinander.

Aber: „Die ganze Siedlung hängt ihrer Anlage nach derart zusammen, dass sie eine in sich geschlossene Einheit darstellt. Ihre Bewohner stehen wirtschaftlich, sozial und auch wegen der großen Entfernung nur in losen Beziehungen zu den umliegenden Gemeinden."

Die neue Gemeinde Geretsried wird gebildet aus Flächen, die bis dahin zu Gelting, Königsdorf, Osterhofen und Ergertshausen gehörten. Mehr als die Hälfte der Fläche war gemeindefreies Gebiet, das unter der Verwaltung des Forstamts Wolfratshausen stand.

Der Freistaat hält die neue Gemeinde schon allein wegen ihrer Vielzahl an Gewerbe- und Industriebetrieben für „lebensfähig" und „krisenfest". Landrat Dr. Karl Reichhold, ebenfalls ein Befürworter der neuen Gemeinde ernennt Karl Lederer am 3. Mai zum künftigen Bürgermeister, am 18. Juni bestätigen die Geretsrieder Wähler dieses Votum fast einstimmig.

Im ersten Geretsrieder Gemeinderat sitzen folgende Männer: der Arzt Dr. Fritz Balling, der Fabrikant Dr. Theodor Böhme,
der Fabrikant Alfred Franz, der Landwirt Josef Geiger, der Elektromeister Karl Meinlschmidt, Ingenieur Johannes Neiweiser, Zimmerer Karl Schmeissl, Schlosser Ernst Schwägerl, der Polizist Gustav Weidlich und der Schulleiter Arthur Zimprich.

Der große Feiertag, der 24. Juni 1950, ist ein Samstag: Hinter dem Eingang des Tor 3 zum Gartenberger Industriegeländes grüßen Fahnen die Besucher aus dem gesamten Freistaat. Der Andrang ist enorm: In der eigens für den Festakt umgebauten Werkhalle der Firma Fahrzeugbau-Alpenland finden viele Gäste der „Jüngsten Gemeinde Bayerns" (Titel der Festschrift) nicht einmal mehr einen Stehplatz.

Bundestagsabgeordnete, Mitglieder der Staatsregierung, hohe Beamte, der Abt von Kloster Schaftlarn, Landräte, Bürgermeister und ein Vertreter der US-Zivilverwaltung erweisen Geretsried die erste Ehre.




Aufschwung Bonn

Sechs Jahre ist Geretsried nun schon selbständig, aber etwas ganz wichtiges fehlt der Gemeinde: der Besitz von Grund und Boden. Das entscheidende Datum ist der 9. Mai 1956.

An jenem Tag verkauft die bundeseigene IVG endlich das Gelände der einstigen Rüstungswerke an die (bayerische) Landesanstalt für Aufbaufinanzierung (LfA). Damit wird der Weg frei für Privatbesitz in der Gemeinde.

„Es war auch so eine Art Geburtsstunde für Geretsried", erinnert sich Fritz Kraatz 40 Jahre später an den  9. Mai 1946, an jenen Tag, als er nach beinahe fünfjährigen harten Verhandlungen von LfA-Präsident Endres persönlich über den Abschluss eines Kaufvertrags mit der Industrieverwaltungsgesellschaft (IVG) in Bad Godesberg bei Bonn informiert wird.

Kraatz: „Wir waren alle unendlich erleichtert und glücklich." In einer Chronik schreibt der ehemalige Unternehmer: „Es war wohl der wichtigste Zeitpunkt, von dem an die Entwicklung der Industrie, aber auch gleichzeitig der Stadt Geretsried, ungehindert beginnen konnte."

Um das zu verstehen, muss man auf den Ursprung Geretsrieds zurückschauen. Mitte der 30er Jahre kaufte die reichseigene Gesellschaft Montan die für die Rüstungsfabriken benötigten Flächen im Wolfratshauser Forst auf.

Die Firmen Dynamit AG (DAG) und Deutsche Sprengchemie (DSC) wurden Pächter der Montan. Nach Kriegsende blieb das Gelände im Staatsbesitz und ging schließlich an den Montan-Nachfolger IVG.

Für die Industriebetriebe, die ab 1946 in Geretsried angesiedelt werden, bringt dies enorme Nachteile: Sie können ihre Produktion nur in gemieteten Gebäuden aufbauen. Bankkredite sind nur schwer, vielfach auch überhaupt nicht, zu bekommen, da es keinen Grundbesitz als Sicherheit gibt.

So ist der weitere Aufschwung der Geretsrieder Industrie sehr in Frage gestellt, als die Vorstände der Industriegemeinschaft, Fritz Kraatz und Dr. Theodor Böhme,  im Oktober 1951 die eigens für solche Vorhaben gegründete LfA für einen Kauf des Geländes interessieren wollen.

Vorbild ist Waldkraiburg: Die Verhandlungen der LfA über diesen Ort waren 1951 schon so gut wie abgeschlossen.
Fritz Kraatz: „Der Bürgermeister Rösler war mehr in Bad Godesberg als zu Hause in Waldkraiburg." Das zahlte  sich aus: Die LfA bezahlte nur 8,3 Millionen Mark.

Bei einer Besprechung im April 1952 äußert die IVG, dass sie kein weiteres Interesse an Geretsried habe und bereit sei,
im Herbst in Verhandlungen mit der LfA zu gehen. Der Termin wird nicht gehalten.

Im März 1953 teilt Staatssekretär Guthsmuths der Industriegemeinschaft mit, es dauere wohl bis Sommer, „bis Waldkraiburg verdaut ist". Im Oktober schließlich erhöht  die IVG unerwartet die Bodenpreise, wieder stagnieren die Verhandlungen.

Daraufhin schaltet sich der Landtagsabgeordnete Dr. Paul Wüllner vom Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten (BHE) ein. Die Sache kommt vor den Landtag - ohne Erfolg: Die LfA bietet 15 Millionen Mark, die lVG will 19 Millionen nur für die Gebäude.

Für die Unternehmen wird die Situation langsam kritisch. Zum weiteren Aufbau fehlen Kredite. Die IVG wollte, so erinnert sich Kraatz, ihre Preisvorstellungen durch ein Spiel mit der Zeit durchbringen.

In den Jahren 1954 und 55 spitzt sich die Situation weiter zu. Bürgermeister Karl Lederer tritt offiziell zurück, um auf die Probleme bundesweit aufmerksam zu machen. Vertreter der Industriegemeinschaft fahren immer wieder nach Bad Godesberg, in Geretsried gehen einige hundert Menschen zu einer Protestkundgebung auf die Straße.

Eine Resolution geht nach Bonn, der Tenor: „Wir haben kein Verständnis dafür, dass die IVG unsere Millionen Schweißtropfen in Millionen von DM zu ihren Gunsten umwandeln will."

Die IVG bleibt unbeeindruckt, sie setzt dem Streit sogar noch die Krone auf, als sie zum 1. Dezember 1955 die Pachten kurzfristig verdoppelt. MdL Wüllner schreibt an Bundespräsident Heuss, an Ministerpräsident Högner und weitere maßgebliche Politiker.

Jetzt kommen die Verhandlungen doch wieder in Gang. Am 9. Mai 1956 sind die Verträge endlich unterschriftsreif. Der Verkaufspreis beträgt 15 Millionen Mark, wie von der LfA drei Jahre zuvor schon geboten.

Von da an veräußert die LfA Geretsried scheibchenweise Grundstücke an die bisherigen Pächter. Unternehmer aber auch viele Bürger können endlich Eigentum bilden und selber bauen.

Der damalige Grundstückspreis ist aus heutiger Sicht unfassbar niedrig: Verlangt werden durchschnittlich 1 Mark je Quadratmeter.




Quellen

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