Viel geplant, wenig geschafftFebruar 1936, Heinrich Jost ist nun also der Statthalter der NSDAP in Wolfratshausen. Der Vater von zwei Kindern hat im Jahr Vier des 1000-jährigen Reichs vor allem den wirtschaftlichen Aufschwung im Blick. Denn die Situation des Marktes Wolfratshausen ist äußerst schwierig: Keine Industrie, wenig Gewerbe - dafür aber viel Armut.
Noch vor Josts Amtsbeginn erklärt der Gemeinderat Wolfratshausen offiziell zur "Notstandsgemeinde". Man sei, so heißt es in der Entschließung, "außerordentlich mit Fürsorgeleistungen belastet und der Zuzug von Hilfsbedürftigen nimmt dauernd zu."
Zur offiziellen Nazi-Propaganda jener Zeit passt das ganz und gar nicht. Denn im "Wolfratshauser Tagblatt" war just einen Tag vor dieser Resolution zu lesen gewesen: "Der Bezirk Wolfratshausen ist tatsächlich arbeitslosenfrei." Von zwei Jahre zuvor 564 Arbeitslosen seien lediglich noch 25 übrig.
Wo sind die anderen 539? Hat sich die Arbeit seit 1933 wundersam vermehrt? Sie hat tatsächlich, denn die Nazis führen "Pflichtarbeit" ein. Mit dem Begriff "Arbeitsschlacht" bezeichnen sie die Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Viele der vom Staat finanzierten Arbeitsbeschaffungs-Projekte (heute sagt man ABM, d. Autor) dienen indes schon der Vorbereitung auf kommende Eroberungskriege.
So entstehen schon im März 1934 im Osten des Bezirks Wolfratshausen, bei Sauerlach, durch den Bau der Reichsautobahn München-Salzburg tausende neuer Arbeitsplätze. Dass der Staat seine Gigantomanie nur durch Kredite finanzieren kann, weiß keiner von den Leuten, die nun wieder Arbeit und Broterwerb haben - und Hitler dafür verehren.
Zur Eröffnung des ersten Teilstücks der Autobahn bis Sauerlach, erscheint Adolf Hitler persönlich. Das "Wolfratshauser Tagblatt" berichtet am 30. Juni 1935: "Als nun der Führer, stehend im offenen Wagen, mit erhobener Hand nach allen Seiten grüßend, erschien, flogen die Hände zum Gruße in die Höhe und tausendfach pflanzte sich das 'Heil' fort. Unvergesslich wird der überwältigende Vorgang in den Herzen sein und bleiben."
Bürgermeister Heinrich Jost 1935.
Zum Sieg in der Arbeitsschlacht
Nicht allein zum Autobahnbau werden die Arbeitslosen dienstverpflichtet: 200 Männer sind fünf Monate lang für den Hochwasserschutz mit der (Hochwasser-) Regulierung der Loisach bei Achmühle beschäftigt. Uferbefestigungs-
ABM à la Hitler: Ein Bild vom Ausbau
der "Natzikurve" der Reichsstraße 11.
Der Wirtschaftsplan Jost
Langfristig wirksam ist die nationalsozialistische "Arbeitsschlacht" nicht. Bürgermeister Jost will darum aktive Wirtschaftsförderung betreiben und stellt dafür ein eigenes Konzept auf. Er nennt es den "Wirtschaftsplan Jost". Die Ziele: Förderung des Fremdenverkehrs, der Wohnungsbau, ein neues Schulhauses, die Errichtung einer kleinen Militär-Garnison.
Das "Wolfratshauser Tagblatt" lobt: "Eine neuartige Gemeinschaftspolitik entwickelte der Bürgermeister in seiner Idee, in zwanglosen Abständen die Bevölkerung zusammenzurufen, um Rechenschaft über seine Arbeit und seine Erfolge abzulegen." Geradezu demokratisch gibt sich Jost. Nur - von einer Einladung zu einer solchen Bürgerversammlung ist nie wieder zu lesen. Wenig erfolgreich ist Jost auch in seinem Bemühen um mehr Fremdenverkehr. Auch das 1934 eröffnete Hochlandlager, ein Ausbildungslager der Hitlerjugend, an der Rothmühle zwischen Königsdorf und Bad Tölz bringt der Marktgemeinde keine Vorteile.
Die Verbesserung des Fahrplans und des Tarifs der Isartalbahn nach München bleiben ebenfalls ohne die erhoffte touristische Bedeutung, auch als die Bahnlinie 1938 verstaatlicht wird. Ein von Jost vorgeschlagener Radwanderweg wird nicht verwirklicht.
Das einzige nennenswerte Ergebnis von Josts Wirtschaftspolitik hat inzwischen über 22.000 Einwohner: Ohne die Initiative des Bürgermeisters hätte es die beiden gigantischen Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst, das heutige Geretsried, wohl nie gegeben.
Jost ist nur eine Marionette der Münchner Gauleitung mit dem gefürchteten Adolf Wagner an der Spitze. Der Gemeinderat, ein Gremium von "Ja-Sagern", segnet die Beschlüsse des Bürgermeisters jedes Mal kommentarlos ab, wenn er denn überhaupt gefragt wird. Ratssitzungen finden jedenfalls nur mehr sporadisch statt.
Zwei weitere wichtige Entscheidungen Josts fallen erst kurz vor Kriegsende: Bei einer Versammlung am 12. Dezember 1944 erhalten die in Wolfratshausen stationierten Landesschützen den Auftrag, Luftschutzbunker und -stollen für jeweils 140 Menschen zu bauen. Der Luftkrieg hat längst auch Wolfratshausen erreicht.
Am 5. März 1945, gut sechs Wochen vor dem amerikanischen Einmarsch, beschließt Jost den Bau neuer Wohnungen und Behelfsheimen - seine letzte Amtshandlung.
Von Sklavennaturen umbenannt
So schnell wie Heinrich Jost, so schnell verschwinden nach Kriegsende auch andere Insignien der Nazi-Herrschaft. Die Straßennamen etwa. Eine der ersten Entscheidungen des nationalsozialistischen Wolfratshauser Gemeinderats betraf im Frühjahr 1933 die Umbennung von Straßen.
Ober- und Untermarkt heißen fortan Adolf-Hitler-Straße, die Bahnhof- wird zur Hindenburgstraße. Der Paradiesweg heißt Adolf-Wagner-Allee, der Floßkanal Hermann-Göring-Straße, die Alpen- Wilhelm-Gustloff-Straße, die Gebhart- Bismarckstraße und aus der Schießstätt- wird die Dietrich-Eckert-Straße (von dem Hitlerfreund und Journalist wird hier noch die Rede sein).
Dieser Spuk ist mit Kriegsende vorbei: Die amerikanische Militärregierung macht am 6. Juli 1945, zehn Wochen nach dem Einmarsch, alle Namensänderungen wieder rückgängig. In einer Bekanntmachung des von der US-Armee eingesetzten Landrats Hans Thiemo heißt es unter dem Betreff "Austilgung des Nazitums": "Im Jahre 1933 wurde von willfährigen, überschwänglichen Sklavennaturen - nicht von Männern - die alten Straßen- und Wegnamen nach Nazi-'Größen' und 'Reichserneuerern' umbenannt."
Auf eine Liste der neuen-alten Straßennamen folgt die eindeutige Anweisung Thiemos: "Der Gebrauch der bisherigen Nazinamen in Wort und Bild ist bei Strafe verboten. Was an sie erinnern kann, ist zu vernichten."
Die Hand zum Hitlergruß
Nicht allein die Straßennamen sind es, mit denen die Nationalsozialisten ihre Macht demonstrieren. Allgegenwärtiges Symbol zu Hause und auf der Straße ist das Hakenkreuz. Mit Hakenkreuzfahnen beflaggt sind die zentralen Plätze der Marktgemeinde.
Wer immer an einer solchen Fahne vorbeigeht, hat, so bestimmt es das Reichsflaggengesetz, die Hand zum Hitlergruß zu heben. Das "Wolfratshauser Tagblatt" : "Wer die Fahnen der Bewegung auf offener Straße nicht grüßt, der verleugnet sein Vaterland und gehört nicht zu unserer Volksgemeinschaft."
Zu jenen, die gegen dieses Gesetz laufend verstoßen, gehört der katholische Ortspfarrer Mathias Kern. Bürgermeister Jost erstattet gegen ihn deshalb am 9. November 1937 Anzeige bei Landrat Adolf von Liederscron. Ob der Gesetzesverstoß Folgen hatte, geht aus den wenigen erhalten gebliebenen Akten nicht hervor.
Ein Tag von besonderer Bedeutung für die NSDAP in Wolfratshausen ist der Dienstag, 17. September 1935: Die neugeweihte Fahne wird mit dem Postauto direkt vom "Reichsparteitag der Freiheit" in Nürnberg angeliefert. Die dazugehörige Zeremonie macht deutlich, welchen Kult die Nazis um ihre Symbole betreiben. Das "Tagblatt" berichtet: "Eine Fahnenabordnung, bestehend aus politischen Leitern sowie der BDM (Bund Deutscher Mädel, d. Autor) hatten sich zum Empfang eingefunden, und unter dem Gesang froher Marschlieder ging es dann zum
Standquartier der Ortsgruppenfahne."
Das Zeichen des Sieges leuchtet
Noch absurder erscheint die Illustration des Kreistags der NSDAP vom 10. bis 14. Mai 1939. Das "Tagblatt" verkündet stolz: "Das Zeichen des Sieges leuchtet ins Tal." Was war geschehen? Auf Anordnung des Bürgermeisters war am Bergwald, auf dem so genannten Fahnensattlerberg, ein großes Hakenkreuz aufgestellt worden.
Es wird nachts rot angestrahlt "und auch in Zukunft bei festlichen Gelegenheiten gute Dienste leisten" (Tagblatt). Allerdings scheint der Parteitag die einzige Gelegenheit gewesen zu sein, dieses überdimensionale Symbol aufzustellen. An die Existenz dieses Hakenkreuzes erinnert sich in Wolfratshausen heute niemand mehr.
Krasser noch treiben es die braunen Machthaber in Bad Tölz und Umgebung. Dort werden bereits im April 1934 ganze Berge umbenannt. Der Heiglkopf und die Wackersberger Höhe (beide nahe beim Blomberg) heißen von da an Hitlerberg und Hindenburghöhe. Auf dem Heiglkopf alias Hitlerberg wird zudem ein zehn Meter hohes, 1200 Kilogramm schweres Hakenkreuz aufgestellt, das nachts von Fackeln beleuchtet wird.
Das Hakenkreuz auf dem Heiglkopf
(beide Bilder aus: "Die NS-Zeit im Altlandkreis Bad Tölz" von Christoph Schnitzer)
Der Blomberg darf im Übrigen seinen Namen behalten, eines Zufalls,einer Namensgleichheit wegen: Werner von Blomberg ist bis 1938 Reichskriegsminister. Noch vor dem Einmarsch der Amerikaner,in der Nacht zum 29. April 1945, wird das Hakenkreuz auf dem Blombergvon einigen Wackersberger Bürgern umgelegt.
Das Hakenkreuz begeistert aber nicht nur die Amtsträger der NSDAP. Ein Bürger der Gemeinde Schönrain (heute ein Ortsteil von Königsdorf) will im April 1934 das mit hellen Ziegeln gedeckte Dach eines neu erbauten Stadels mit dunklen Ziegeln in der Form eines vier mal vier Meter großen Hakenkreuzes decken. Bezirksbaumeister S. in einem Schreiben ans Bezirksamt: "Derartig bemusterte Dachflächen sind im Interesse einer guten Bauweise nicht erwünscht."
Das Hakenkreuz wird tatsächlich schnell beseitigt, obwohl SA-Sturmführer Mitterpleiniger handschriftlich vermerkt: "Mir ist das Schreiben des Herrn S. wirklich sehr unverständlich. Stört das Hakenkreuz wirklich das Landschaftsbild oder die Bauweise?"
Am Rande:
Die Bezeichnung Hitlerberg statt Heiglkopf hat in amerikanischen Archiven bis heute Bestand, wie eine entsprechende Ortsbezeichnung in der Internet-Software "Google Earth" belegt. Anfang März 2007 berichtete darüber die Nachrichtenagentur ddp. Der Artikel schlug bundesweit Wellen. Google sagte daraufhin zu, die Bezeichnung "Hitler-Berg" zu streichen. Karikatur von Hans Reiser, Tölzer Kurier vom 10. März 2007
Den Juden Spatz gegrüßt - Anzeige
Gar mancher Wolfratshauser nutzt die Machtverhältnisse auch um sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Schriftlich überliefert ist ein sehr bezeichnender Vorfall, der sich schon 1934, im Fasching, ereignete.
Da nämlich zeigt der Posthelfer Josef B. die beiden nationalsozialistischen Gemeinderäte Hans G. und Franz K. bei Ortsgruppenleiter Kaspar Obermaier an - wegen eines nach B.s Meinung "abstoßendem Verhaltens". Der Posthelfer gibt zu Protokoll:
"Am Fastnachtsonntag, 11. Februar 1934, fand durch den Markt Wolfratshausens seitens des Faschingskomitees ein Umzug statt (...). Nach Beendigung des Umzugs ist ein Teil der Beteiligten in das Gasthaus zum Humplbräu gegangen, in dessen Gaststube unter anderem der jüdische Viehhändler Hermann Spatz (er wohnte in dem Hotel, d. Autor) anwesend war. Nach Eintritt in die Gaststube begab sich G. an den Tisch des Spatz - den G. angesprochen hat mit den Worten: Ja, der Hermann ist auch da - und hat ihn dann förmlich umarmt. (...)
Die Gaststube war bei dieser Affäre voll besetzt. Ich habe für meine Person an dem Auftreten des G. und K. Anstoß genommen, zu dem sich diese als Nationalsozialisten bekennen wollen und dem Marktgemeinderat als Mitglieder angehörten. Unterzeichneter hat dann den Faschingszug nicht mehr mitmachen wollen, weil ihn dies Verhalten der beiden Genannten abgestoßen hat."
Die Anzeige hat Folgen: Am 18. Mai 1934 befasst sich das Kreisgericht der NSDAP mit der Angelegenheit. G. und K. wird für ein Jahr "die Fähigkeit zur Bekleidung eines Parteiamts" aberkannt.
Interesse an Partei zu gering
Parteimitglied ist nicht gleich Parteimitglied. Die Mitgliedschaft in der NSDAP verrät nicht automatisch den großdeutschen Antisemiten. 400 Wolfratshauser sind zu Kriegsende Mitglied der NSDAP, aber das Interesse an tatkräftiger Mitarbeit in der Partei ist eher gering.
Darüber klagt am 18. Juli 1940 in einer "Anordnung" Ortsgruppenleiter Heinrich Jost. Unter dem Betreff "Teilnahme Ortsgruppen-Geschäftsstunden Donnerstag abends 18.30 bis 20 Uhr" schreibt der Nazi-Funktionär:
"Eine Reihe Mitarbeiter haben wiederholt unentschuldigt gefehlt. Ich bitte alle politischen Leiter bei den großen Aufgaben, die wir gemeinschaftlich zu erledigen haben, die einmal übernommenen Pflichten auch wirklich zu erfüllen und durch ihre Mtarbeit ihre Gefolgschaftstreue zur Volksgememeinschaft der NSDAP unter Beweis zu stellen."
Hitlers "männliche Worte"
Davon können Politiker in der Demokratie nur (vergeblich) träumen: Gerade mal neun ungültige Stimmen werden am 29. Mai 1936 bei den Reichstagswahlen gezählt: 1832 Wolfratshauser stimmen - so heißt es offiziell - für die (alleinige) Liste der NSDAP und damit "für Ehre, Freiheit und Frieden", wie das "Wolfratshauser Tagblatt" schreibt:
"Woche für Woche hatte die Wahlpropaganda eingesetzt, um dem letzten Volksgenossen die Bedeutung des Wahltages vor Augen zu führen. Es war nicht vergeblich. Das Volk kennt seine Pflicht."
Bereits am Vorabend habe sich die Bevölkerung zu einem "Freudenfest zusammengefunden, um im Gemeinschaftsempfang die Schlussrunde des Führers mitzuerleben. Uniformen und Festtagskleidung beherrschen
das Straßenbild der Abendstunden. Letzter Aufruf des Kreisleiters vor der Rundfunk-Übertragung der Rede des Führers. Eine dichte Menschenmenge umsäumt die Turnhalle in Wolfratshausen, um die männlichen Worte Adolf Hitlers zu hören."
Nach der Rede des Führers ziehen die NSDAP-Gliederungen in Fackelzügen durch Wolfratshausen. Und am Wahltag selber marschiert der Bund Deutscher Mädel, BDM, mit Sprechchören durch die Straßen: "Wir Jungen bitten Euch, wählt Adolf Hitler." Es besteht Wahlpflicht.
Nationalsozialist der ersten Stunde
Unzumutbar sind die schulischen Verhältnisse im Wolfratshausen der 30er Jahre. Ein neues Schulhaus muss her, diesen Plan verfolgt NS-Bürgermeister Heinrich Jost seit seiner Einsetzung im Februar 1936.
Nach dem ersten Spatenstich im Dezember 1938 in Nachbarschaft der acht Jahre vorher eingeweihten Turnhalle und nach knapp zwei Jahren Bauzeit, darf am 16. März 1940 gefeiert werden: Im Beisein von Landrat Adolf v. Liederscron wird die Dietrich-Eckart-Volksschule (heute: Volksschule am Hammerschmiedweg) eingeweiht.
1930 wurde von Bürgermeister Winibald der erste Spatenstich
für die Wolfratshauser Turnhalle feierlich begangen.
Noch ein erster Spatenstich: Die Dietrich-Eckart-Volksschule
baute Bürgermeister Jost (Vordergrund) 1938.
Der Krieg ist gut ein halbes Jahr alt, das "Wolfratshauser Tagblatt" schreibt begeistert: "Das neue Schulhaus, ein Wunsch, der seit Jahrzehnten mit des Marktes Wollen und Streben auf das Engste verbunden war, fand seine Erfüllung. Hochgiebelig ragt es über die anderen Häuser des Marktes heraus und ist dem Orte eine Zierde
und der Jugend eine Bildungsstätte, die sowohl dem Körper wie dem Geiste zugute kommt."
Wer aber war Dietrich Eckart, der der Schule (fünf Jahre lang) ihren Namen gab? Der heute nur Historikern bekannte Dichter und Journalist, Jahrgang 1868, war ein Nationalsozialist der ersten Stunde. ein Mitbegründer der NSDAP. Der als belesen geltende Schopenhauer-Verehrer war während und nach dem Ersten Weltkrieg in München eine bekannte Größe und führte als dessen Mentor Adolf Hitler in die dortige Gesellschaft ein.
Er war einer der ideologischen Väter des früheren Nationalsozialismus, Gründer der 1923 eingestellten Zeitschrift "Auf gut Deutsch" und von 1921 an einer der Herausgeber und sogar Chefredakteur des
in München erscheinenden "Völkischen Beobachter".
Eckart war fanatischer Anhänger der Rassenlehre und damit strikter Antisemit. Hitler-Biograph Alan Bullock schreibt über ihn: "Er drückte sich gut aus (...) und hat zweifellos auf den jüngeren und noch sehr primitiven Hitler einen großen Einfluss ausgeübt. Er (...) nahm ihn überall mit hin."
Gleichschaltung der Presse
Zum 1. Januar 1935 verlor das im Verlag Georg Schwankl erscheinende "Wolfratshauser Wochenblatt", der 1866 gegründete Vorläufer des Isar-Loisachboten seine Eigenständigkeit. Fortan erscheint das Wochenblatt nur noch im Untertitel des "Wolfratshauser Tagblatts" respektive "Wolfratshauser Beobachters", einer Lokalausgabe des "Völkischen Beobachters". Gedruckt wird die Zeitung in München.
Die Leser werden am 30. Dezember 1934 folgendermaßen informiert: "Wir hoffen mit dieser Maßnahme, die durch die heutigen Verhältnisse in mancherlei Hinsicht eine zwingende Notwendigkeit wurde, bei unseren Lesern Verständnis zu finden und glauben damit weitgehenden Wünschen nachzukommen. Das Bestehen zweier Zeitungen im verhältnismäßig kleinen Bezirk Wolfratshausen war schon immer eine unzweckmäßige und für viele Kreise kostspielige Einrichtung."
Der Volksfeind:
Lieber Gott, mach mich stumm
Wie Pfarrer Kern die Nazis austrickstDie einzige organisierte Gegenkraft zu den Nationalsozialisten ist in Wolfratshausen die katholische Kirche. Bis 1933 finden zweimal im Jahr im Bernrieder Hof (der heutigen Musikschule) und in der Turnhalle religiöse Männertagungen statt. Zu den regelmäßigen Gästen gehört sogar der später selig gesprochene Pater Rupert Mayer, der über Hitler sagte ,,Der Mensch hat ja von Religion keine Ahnung." Gefallen wollen diese Aktivitäten den Nazis nicht.
Die Spannungen zwischen Ortskirche und Partei steigern sich ab 1933 erheblich. Am 25. September ordnet das Bezirksamt Wolfratshausen die Überwachung aller katholischen Vereine an. ,,Jedwelche Betätigung" außerhalb der Kirche wird verboten, mit Ausnahme der ,,unbedingt notwendigen Proben von Kirchenchören sowie im mäßigen Umfang Vorstandssitzungen zur Erledigung von Unterstützungsgesuchen".
Der Wolfratshauser Pfarrer Matthias Kern, erklärter Gegenspieler der NS-Bürgermeister Schrott und Jost, reagiert darauf geschickt. Er bietet den Jugendgruppen die Kirche als Treffpunkt an.
Auch Kerns Mitarbeiter, der Kooperator Karl Schuster, profiliert sich im Kampf gegen das Regime. Kern über Schuster: ,,Ein unnachgiebiger Gegner des Nationalsozialismus, dessen Opfer er schließlich wurde." Die Wolfratshauser Gläubigen bewundern seine Unerschrockenheit, fürchten aber stets, daß Schuster verhaftet wird.
Eine bekannte Redewendung auch in Wolfratshausen heißt: ,,Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm." 1939 passiert es tatsächlich, Schuster wird verhaftet: Er kommt erst sechs Jahre später, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wieder frei.
Der Religionsunterricht in der Landwirtschaftsschule wird 1934 trotz großer Proteste der Schüler abgeschafft. Pfarrer Kern verlegt die Stunden in die Sakristei der Pfarrkirche. Im Jahr darauf ist an Sebastiani letztmals die Beflaggung mit weiß-blauen Fahnen gestattet. Und ab 1936 sind außerhalb der Kirche überhaupt keine Veranstaltungen mehr möglich.
Auch der Orden der "Armen Schulschwestern", der seit 1840 im Markt tätig ist, bekommt die Repressalien der Partei immer mehr zu spüren. 1936 veranlasst Pfarrer Kern eine Stellungnahme aller Eltern, die Kinder in der Bewahranstalt und in der Schule haben. 180 Elternpaare setzen sich für die Schwestern ein, darunter auch evangelische Gläubige. Bürgermeister Jost schimpft Kern einen ,,Schleicher".
Pfarrer Matthias Kern
Hier wohnt ein VolksfeindDie Primizfeier des Wolfratshauser Neupriesters Josef Winklmeier findet 1938 ausschließlich in der (allerdings prächtig geschmückten) Kirche statt: Es gibt auf der Straße keinen Schmuck, keine Girlanden, keine Fahne und keinen Kirchenzug.
Kooperator Schuster gerät immer mehr in die Schusslinie der Nazis: Das ehemalige Benefiziatenhaus im Untermarkt, in dem er mit seiner Schwester lebt, wird mit Parteiplakaten beklebt. Als die beiden diese wegreißen, werden sie für kurze Zeit ins nahe Gefängnis gesperrt. An ihrem Haus prangt nun ein neues Plakat: ,,Hier wohnt ein Volksfeind". Als Gegenleistung für die Freilassung muss Schuster versprechen, Wolfratshausen zu verlassen.
Auch Pfarrer Kern bekommt den steigenden Druck zu spüren. Er hat Unterrichtsverbot. Im Juli 1939 kümmert sich sogar Goebbels Reichspressekammer um den Fall Kern: Dem streitbaren Prediger wird verboten, die wöchentliche Gottesdienstordnung zu verteilen. Dagegen widersetzt sich der Priester: Er vervielfältigt die Kirchenzettel selber und bringt sie den Kirchgängern persönlich nach Hause.
Mit Beginn des Krieges wird die Situation noch schlimmer: Prozessionen können nur noch am frühen Morgen stattfinden, die Fronleichnamsfeier ist untersagt, sie wird am Sonntag darauf in Gelting gefeiert. Die Glocken dürfen nicht mehr geläutet werden, später werden sie beschlagnahmt und des Metalls wegen eingeschmolzen.
Im Frühsommer 1940 wird den Armen Schulschwestern auch der Kindergarten entzogen, am 10. Juni eröffnet die Partei einen neuen, geführt von drei NSV-Schwestern (NS-Volkswohlfahrt) und einer Köchin.
Nun greift der Staat auch nach dem Schrifttum der Kirchen. Die Kirchenblätter werden verboten, Literatur beschlagnahmt, die Pfarrbücherei überwacht: Was an Büchern erlaubt ist, bestimmt die politische Partei.
Pfarrer Kern legt sich am Weißen Sonntag erneut mit der NSDAP an: Als der Wolfratshauser Theologiestudent Georg Fuchs in Freising zum Priester geweiht wird, lässt er die Glocken läuten. Zur Primiz von Fuchs ist die Wolfratshauser Kirche bis zum letzten Platz gefüllt.
Schulkreuze sollen weg
Was folgt, ist ein offener Kampf: Der Münchner Gauleiter Wagner bestimmt am 23. April 1941, dass alle Schulkreuze entfernt werden müssen. Mit dem folgenden Entrüstungssturm vor allem der Mütter hatte die Partei allerdings nicht gerechnet.
Tatsächlich nimmt Wagner seine Verfügung am 28. August wieder zurück. Ein SS-Angehöriger, der sich im Urlaub in Wolfratshausen trotz Verbots kirchlich trauen läßt, erhält eine schwere Rüge. Er wird als ,,Volksschädling" gebrandmarkt.
Auch in Wolfratshausen fordert nun der Krieg immer mehr Opfer. Pfarrer Kern ist tröstender Anlaufpunkt für die trauernden Angehörigen. Zu seinem 40jährigen Priesterjubiläum und zum 20jährigen Pfarrjubiläum findet am 28. Juni 1942 ein großer Festgottesdienst statt. Die Beteiligung ist überwältigend - obwohl ,,Zeit, Leid, Klage, Krieg und Kriegsopfer, Druck und Verbot jede Zustimmung und Freude drücken", wie Kern den Gläubigen sagt.
Seine politischen Äußerungen bringen ihm die Gestapo ins Haus, .Einmal wird Kern ins Wittelsbacher Palais nach München vorgeladen. Inspektor Pfeifer brüllt den Priester an: ,,Wir haben immer mit dem Pfarrer Kern zu tun. Wir wollen Ruhe von Ihnen haben. Wir haben unsere Zeit für bessere Dinge. Sie verzichten auf die Pfarrei Wolfratshausen, oder ich werde Schutzhaft über Sie verhängen." Kern wählt die Haft.
Der Protest aus Wolfratshausen, wo ohne jede Rücksicht auf das eigene Wohl auch von Parteimitgliedern das Vorgehen der Gestapo verurteilt wird, verhallt indes ungehört. Kardinal Faulhaber indes sieht keine Chance mehr,
Kern zu halten. Er entlässt den Wolfratshauser Pfarrer aus seinem Amt. Kern wird daraufhin von den Nazis wieder freigelassen.
Missbrauch der Gottesdienstordnung?
Die braunen Machthaber gehen nicht nur gegen Pfarrer Kern vor. Sie versuchen die Position der Kirche auch durch andere Maßnahmen zu schwächen - auf lächerliche Art bisweilen: 1935 fordert die örtliche Hitler-Jugend, die Hakenkreuzfahne ganz oben in der Kuppel der Kirche zu hissen.
Erst als der zuständige Kommissär der politischen Polizei erkennt, welche schwierige Kletterei damit verbunden ist, wird der Plan fallen gelassen. Aber die Kirchweihfahne, so die offizielle Anordnung der Partei, darf nicht höher hängen als die Hakenkreuzflagge.
Noch kurioser: Ab Mai 1935 dürfen Maibäume nicht mehr weiß-blau angestrichen werden, nazi-braun ist die Farbe der Farben.
Von April 1935 an veröffentlicht das gleichgeschaltete "Wolfratshauser Tagblatt" auch keine Kirchenanzeiger mehr.
Angeblich, so die vorgeschobene Begründung, sind von der Pfarrei die notwendigen Angaben nicht regelmäßig weitergegeben worden.
Das "Tagblatt" an seine Leser: "Wir haben seit Jahren, trotz immer wiederkehrenden Missbrauchs der Gottesdienstordnung zu politischen Zwecken, (...) unter außerordentlich großen Geld- und Raumaufwendungen der Seelsorge durch den Abdruck der Gottesdienstordnungen zu dienen versucht. (...)
Wenn jedoch von übergeordneter Stelle durch willkürlichen Entzug (...) eine Überwachung der Parteipresse in der Ausübung ihres Amts, in dem jeder Schriftleiter allein seinem Gewissen und dem Reichspropagandaminister verantwortlich ist, versucht werden soll, erscheint es uns notwendig, solche Zumutungen durch Einstellung einer kostspieligen und nicht bedankten Hilfe zu beantworten." Alles klar?
Hinweis:
Pfarrer Matthias Kern wirkte von 1922 bis 1942 in Wolfratshausen. Über die (politischen) Veränderungen legte er in seinen Tagebüchern Zeugnis ab. 2003 veröffentlichte sie die Wolfratshauser Stadtarchivarin Marianne Balder als Band 1 ihrer Schriftenreihe. Allerdings ist das Buch inzwischen vergriffen.
1942 ließen die Nazis die Kirchenglocken einschmelzen.
Geschlagene Gesellen
Schutzhaft für einen ledigen Schreiner
Der 28jährige Adolf Reiser ist auf dem Weg von der Arbeit zu seiner Wohnung in Weidach. Als der ledige Schreiner den Bahnhof Wolfratshausen verlässt, greift die politische Polizei zu. Es ist der 1. April 1935; Reiser wird verhaftet und zum Gefängnis am Untermarkt abgeführt. Vom Fenster der Bahnhofs-Wirtschaft aus beobachten Ortsgruppenleiter Kaspar Obermeier und einige herbei bestellte Parteigenossen das Schauspiel.
Der in "Schutzhaft" genommene Reiser ist Vorstand des katholischen Gesellenvereins Wolfratshausen (heute Kolpingsfamilie) - einem der Hauptgegner des Nazi-Regimes vor Ort. Nur einen Tag nach Reisers Verhaftung wird denn auch "zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit" (Landrat Adolf v. Liederscron) dem Verein auf drei Monate jede Tätigkeit verboten. Diese beide Maßnahmen sind der Höhepunkt eines ungleichen Kampfes zwischen der NSDAP und dem katholischen Verein.
Bereits am 20. März 1933 verweigert die Vorstandschaft einstimmig, an einem Fackelzug der NSDAP teilzunehmen. Reiser in der Rückschau: "Wir wollten bleiben, was wir waren." Auch einer Jubelfeier zu Ehren von Hitlers Geburtstag (20. April 1933) bleiben die Gesellen fern.
Beim Deutschen Gesellentag in München, Anfang Juni, machen die Wolfratshauser Kolping-Anhänger erstmals Erfahrungen mit der Schlagkraft der neuen Machthaber. SA-Horden verprügeln auf offener Straße die Versammlungsteilnehmer.
Reiser: "Wir Wolfratshauser zogen uns in die Pschorrbräu-Bierhallen zurück und wurden dort vor den Anpöbelungen der SA in Schutz genommen. Dann aber kam SS, und einige von uns mussten die ersten Schläge roher Gewalt erdulden."
Zu den ersten Auseinandersetzungen kommt es im Herbst 1933: Die politische Polizei gibt bekannt, dass Veranstaltungen, sofern sie nicht rein kirchlich sind, künftig untersagt werden. Im Juni 1934 versucht die örtliche NSDAP dem populären Verein auch dadurch die Basis zu entziehen, dass die Doppelmitgliedschaft in einer katholischen Vereinigung und einer NSDAP-Organisation unzulässig sei.
Wer aber im Dritten Reich etwas werden will, kommt an der Partei nicht vorbei. Trotzdem lassen sich die Gesellen nicht abschrecken - zum Jahresende 1934 verzeichnet die Kolpingsfamilie Wolfratshausen 63 Mitglieder; 1931 waren es erst 55 gewesen.
Eine Demonstration der Macht: Nazi-Aufmarsch in Wolfratshausen
"Nur noch blaue Augen, ergo arisch"
Im Jahr 1935 wird das Versammlungsverbot zwar lockerer gehandhabt, allerdings hat eine vierteilige Vortragsreihe, zu der in die Kirche eingeladen wird, die erneute Verhaftung von Vorstand Reiser zur Folge. Nach vier Tagen wird er dank des Einschreitens des Münchner Generalvikars wieder freigelassen.
Aber der Verein kommt nicht mehr zur Ruhe: Bei der Hauptversammlung am 5. August 1935 stürmen uniformierte SS-Leute den Saal und beschimpfen und bedrohen die "schwarzen Brüder". Als drei der Vereinsmitglieder nach Hause gehen wollen, werden sie in ein Auto gezerrt, in einen Wald verschleppt und verprügelt. Dabei wird auch das Mitgliederverzeichnis des Vereins gestohlen - für die "schwarze Liste" der NSDAP.
Zehn Tage später, am Himmelfahrts-Tag, eskaliert die Gewalt: Gesellenvereins-Mitglieder, die sich im Meislbräu getroffen haben, werden von SS-Leuten mit Gummiknüppeln blutig geschlagen - während die Orts-Gendarmerie zuschaut.
Der kurz zuvor geweihte Priester Josef Winklmeier rennt hilferufend den Markt hinunter. Da wird auf ihn geschossen.
Winklmeier läuft zur Loisach und springt im schwarzen Anzug hinein. Gastwirt Fagner, der einen der SS-Schläger stellt, wird mit dem Revolver bedroht.
Kolping-Präses Karl Schuster, ein ausgewiesener Gegner der Nationalsozialisten, schreibt am 18. August in einem Brief: "Gesund, nur noch blaue Augen, ergo arisch."
Fortan wirkt der katholischen Gesellenverein nur noch im Verborgenen: Das offizielle Vereinsleben ist durch die Gewaltakte lahmgelegt. Zudem werden immer mehr Mitglieder zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht eingezogen.
Erst am 3. Dezember 1945 kann der Verein wieder zusammentreten. Vorsitzender Adolf Reiser: "Ich möchte anknüpfen an unsere letzte Versammlung vor zehn Jahren, wo die Revolver hinten am Tisch lagen und einige unserer Freunde entführt wurden. Aber trotz allem hat ein Häuflein auch hier in Wolfratshausen Kolping die Treue bewahrt,
und dass wir hier wieder zusammen sein dürfen, das ist auch unsere Belohnung für unsere aufrechte Haltung,
die jeden Zwang ablehnte, der Handlungen gegen das Gewissen verlangte."
Prügel von der SS
Ähnlichen Repressalien ausgesetzt wie der Katholische Gesellenverein Wolfratshausen ist seit der Machtübernahme Hitlers 1933 auch der Katholische Arbeiterverein. Auch dessen Tätigkeit wird am 15. August 1935 gewaltsam beendet. Eine Versammlung im "Löwenbräu" wird von der SS gesprengt, die Vereinsmitglieder beschimpft, bedroht und geschlagen.
In der handschriftlichen Vereinschronik wird danach notiert: "Der katholische Arbeiterverein Wolfratshausen hält nun
keine Veranstaltungen und Zusammenkünfte mehr ab, um nicht Leben und Gesundheit seiner Mitglieder in Gefahr zu bringen.
Bei der ersten Versammlung nach Wiedergründung des Vereins am Fronleichnamstag (20. Juni) 1946 im Nebenzimmer des "Löwenbräu" freut sich der Chronist, dass "der furchtbare Terror und die ständige Verfolgung unseres Glaubens" endlich vorbei seien. Der Arbeiterverein ist heute noch aktiv, unter dem Namen Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, kurz: KAB.
Kleine Krieger
Losung
Es stehen 6000 in dunkler Nacht,
als stünden sie um Deutschland Wacht,
sie stehen stumm, sie stehen stille,
es hämmert in ihnen der eiserne Wille:
Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren
und nicht zu dienen blöden Toren!
Regiert von des Führers Hand,
umschlungen von der Treue Band.
So schauen wir stolz zum Lichte auf,
auf unsere Feinde mutig drauf!
Nicht sehen wir um uns den Wahn,
wir stehen unter des Führers Bann.
Wir kämpfen und wir wollen sterben
und für ein neues Deutschland werben!
Wir wollen kämpfen für ein Reich,
wo einer ist dem anderen gleich!
Groß-Deutschland schwebt uns vor den Augen,
ewig wollen wir dran glauben.
Ein Pimpf
(veröffentlicht in der Hochlandlager-Zeitung vom 21. August 1934)
Rudolf Hess zu Gast im Lager
Nichts mehr erinnert in der Jugendbildungsstätte Königsdorf an die Vergangenheit. Lediglich der im Volksmund weiter geläufige Begriff "Hochlandlager" deutet auf die Ursprünge der internationalen Begegnungsstätte hin.
1934 wird, wie überall im Deutschen Reich, auch im "Hochland" ein HJ-Lager eingerichtet, erst am Riegsee bei Murnau und in der Jachenau. Dann kauft die NS-Nachwuchsorganisation von der Landeshauptstadt München das Gelände an der Rothmühle, zwischen Königsdorf und Bad Tölz.
Das Areal unweit der Isar ist bestens geeignet für die angestrebte vormilitärische Erziehung der Hitler-Jugend (HJ)
und später auch des Bund Deutscher Mädel (BDM). In Betrieb genommen wird das Hochlandlager am 9. Juli 1934.
"Königsdorf und Umgebung standen im Zeichen der anmarschierenden Hitler-Jugend. Von Tölz und von Beuerberg her kommen sie in drei Heerzügen mit flatternden Fahnen und frohen Liedern heran. Überall war trotz des schlechten Wetters beste Stimmung. Im Lager ist überall schon Hochbetrieb", schreibt das "Wolfratshauser Tagblatt". Jeweils 4000 Jungen aus dem gesamten Reich werden für jedes Mal 20 Tage ausgebildet.
1936 werden ungefähr 8000 Buben im HJ-Lager unterrichtet. Die Jahreslosung lautet "Disziplin und Glaube."
Obergebietsführer Emil Klein ist geradezu euphorisch: "In diesem Jahr wurde der Jahrgang 1926 vollständig in das
deutsche Jungvolk aufgenommen. Der Jahrgang 1927 wird ebenso wie jeder weitere Jahrgang jeweils am Geburtstag
des Führers in die nationalsozialistische Jugend eingereiht."
Drei Jahre später kommen auch die Mädchen. Anfang Juni 1937 ziehen 800 BDM-Führerinnen als erste von insgesamt 3200 Mädchen zur Schulung in das Hochlandlager ein.
Nochmals das "Tagblatt": "Weltanschauliche Ausrichtung und sportliche Ertüchtigung setzt man von einem nationalsozialistischen Jugendlager voraus. Darüber hinaus sollen diese Führerinnen ihren Mädels beispringen, wenn ihnen im Dienst, auf Fahrt oder sonstwie eine Krankheit zustößt, und deshalb werden sie auch in erster Hilfeleistung bei Unfällen ausgebildet."
Die Lager finden jeweils im Sommer statt. Für die Mädchen steht der Sanitätsdienst an erster Stelle. "Fünf Ärztinnen und eine Reihe von Gesundheitsmädel sind zur gesundheitlichen Betreuung eingesetzt.
Obergauführerin Hilde Dziewas-Königbauer: "Die Mädchen lernen sich unterordnen, den Willen der Gemeinschaft dem eigenen voranstellen. Sie leben in dieser Lagergemeinschaft und später in Dienst und Alltag den Sinn des deutschen Frauentums vor, als deutsche Frau und Mutter vollwertig in der Familie zu stehen, aber auch darüber hinaus ins Volk zu treten."
Die weltanschauliche Schulung steht unter dem Gedanken Großdeutschland", berichtet das "Tagblatt" im Juli 1938.
"Zu den beiden wichtigsten Tagen gehören die beiden Besuchstage. Hier werden sich die Eltern selbst vom Lagerbetrieb überzeugen können."
Welch hohen Stellenwert die nationalsozialistische Erziehung für die Partei hat, zeigt schon die Tatsache, dass die bayerischen Lager stets vom Ministerpräsidenten, Gauleiter Adolf Wagner, eröffnet werden. Am 30. Juli 1938 hat das Lager hohen Besuch: Reichsminister Rudolf Heß, der Stellvertreter von Reichsführer Adolf Hitler, besucht das Mädellager.
Erneut das "Tagblatt": "Er sprach sich sehr befriedigt über das Gesehene und Gehörte aus."
Hitler-Platz und Schirach-Straße: Das Hochlandlager bei Königsdorf
Leibesübungen, Schießen und Geländedienst
Jeweils 20 Tage lang halten sich die Hitler-Jungen, die aus ganz Deutschland kommen, im Hochlandlager auf.
Ausbildung und auch Verwaltung des Zeltlagers sind präzise festgelegt.
Geschult werden 10- bis 14-jährige Buben, die Pimpfe, ältere Jugendliche bis zu 18 Jahren und paramilitärische Spezialgruppen wie die Flieger, die Nachrichter, die Feldschere, die Marine-HJ, die Motor-HJ und die Streifendienste.
Für die Jüngsten bedeutet das Lagerleben an der Rothmühle vor allem Spaß. Auf dem Programm stehen Leibesübungen, also Sport, Spiele, der Geländedienst und eine Ausflugsfahrt. Die über 14-jährigen lernen obendrein noch Schießen und den Luftschutz.
Ordnung steht an allerhöchster Stelle: Gedrillt werden die Kinder schon bei der Aufteilung in Lagermannschaften,
bei der Lagereinrichtung und der Lagerräumung.
Im Lager gibt es ein eigenes Postamt, ein Fundbüro und - bei bis zu 8000 Bewohnern ein Muss - auch eine Materialverwaltung und ein Lebensmitteldepot. Auch die Verwaltung ist durchorganisiert: Der Lager-Oberleitung untergeordnet sind vier Lagerbanne, fünf Lagergefolgschaften, drei Lagerscharen und vier Lagerkameradschaften.
Gemeinsam organisiert werden unter anderem die Erholungsfürsorge, Feste und Feiern, eine weltanschauliche Schulung, ein Sanitäts- und ein Sicherheitsdienst sowie Führungen und Besichtigungen.
Nichts, aber auch gar nichts bei der Erziehung der Jungen zu tüchtigen Zöglingen von Führer Adolf Hitler wird dem Zufall überlassen. Auch die Anreise ist genau festgelegt. Wer mit der Bahn kommt, steigt in Bad Tölz aus und marschiert von dort aus elf Kilometer, oder aber der Isartal-Bahnhof in Beuerberg ist Endstation: Das bedeutet neun Kilometer Fußmarsch.
Alles in Reih und Glied: Das Hochlandlager der Hitlerjugend, anno 1935.
Ausbildung an den Waffen
Kurz vor Beginn des Polen-Feldzugs, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, wird1939 im Deutschen Reich die Jugenddienstpflicht eingeführt. Aus dem HJ- und dem BDM-Lager Hochland wird das WE-Lager, das Wehrertüchtigungslager.
Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS bilden die Jugendlichen militärisch aus. Ein damals 16 Jahre alter Teilnehmer an einem solchen WE-Lager - er kommt aus Wasserburg - berichtet über die Schulung im Sommer 1944:
"Am Tölzer Bahnhof warten schon die künftigen Ausbilder auf uns. Der erste raue Kasernenton, mit allerhand Kraftausdrücken gewürzt, zum Teil mit gemeinsten persönlich beleidigenden Ausdrücken, mischt sich in den vorwinterlichen Wind.
Einer von uns will seinen Koffer zur Erleichterung an einer Schneestange über der Schulter tragen. Kaum hat ein Kapo das gesehen, schlug er ihm seinen Koffer mit einem wüsten Anpfiff vom Tragestangl. Nach zwei Stunden Fußmarsch gelangen wir ins Lager."
Jeder Tag beginnt um 5.30 Uhr mit einer Weckfanfare. Ein Vater beschwert sich beim Lagerleiter über den Drill.
Die Antwort ist harsch: "Nehmen Sie Ihren Sohn ruhig nach Hause mit, auf Muttersöhnchen legen wir keinen Wert."
Die Jugendlichen tragen blaue Uniformen. Es gibt Unterricht in Waffenkunde, Karte und Kompass, Zielansprache und Geländebeschreibung. Zweimal in der Woche ist politi scher Unterricht im Speisesaal angesagt.
Am Ende der Ausbildung müssen die Buben den "K-Schein" ablegen, eine Prüfung über den Umgang mit den verschiedensten Waffen - von Karabiner und Pistole über Granaten und Minen bis zu Panzerfaust und dem Gewehr-Granat-Gerät.
Der große Aufwand hat natürlich seinen Zweck: Nach den dreiwöchigen Kursen im "HoLaLa" (Hochlandlager) gelten die Kinder und Jugendlichen als kriegstauglich. Von 1943 an werden sie als Luftwaffenhelfer eingesetzt. Bei Fliegeralarm müssen sie an die Flugabwehrgeschütze.
"Mit der militärischen Ausbildung wird nicht weniger die politische Beeinflussung und Schulung massiv betrieben. Das Verhalten des Lagerleiters ist sehr fanatisch und ebenso antireligiös", schreibt der 16jährige Hitler-Junge.
"Das kameradschaftliche Verhalten der Lehrgangsteilnehmer ist im Allgemeinen gut. Es gelingt der Lagerleitung allerdings einmal, dass sich einzelne zu tätlichen Ausschreitungen gegeneinander aufhetzen lassen. Über seine antikirchliche Einstellung äußert sich der stellvertretende Lagerleiter, ein Zugführer sehr deutlich. (...) Ein anderes Mal sagt er, es sollen Witze erzählt werden, bei denen es über die Pfarrer geht. Aber es meldet sich keiner."
Die ideologische Schulung erfolgt durch Liedersingen und Theaterspiele: Gesungen werden Lieder wie diese: "Fort mit allen, die noch klagen, die mit uns den Weg nicht wagen. Fort mit jedem schwachen Knecht, nur wer stürmt, hat Lebensrecht."
Ausflüge ins Gelände sind ein wichtiger Bestandteil der Schulung: "Bei einem Feldkreuz wird Halt gemacht. Feldwebel Pritzl fragt, was das ist. Es meldet sich keiner. Schließlich sagt dann einer nach längerem Zögern: ,Das ist ein Feldkreuz. Darauf antwortet Pritzl: ,Weißt, was das ist? Ein Kitsch ist das. Da hängt man einen Juden hin."
Mit Koppeln und Riemen verdroschen
Wer sich nicht an die Regeln hält wird bestraft: "Einer der Lehrgangsteilnehmer aus Miesbach schreibt 1944 in einem Brief über die schlechte Behandlung nach Hause: ,Wir wissen nicht, wann der Kurs aus sein wird, in drei oder vier Wochen. Ich weiß es nicht, weil uns die 'braune Bande' immer anlügt."
Der Brief wird bei einer Kontrolle gelesen. Der Miesbacher bekommt einen schweren Tadel vom Lagerführer: "Dann müssen alle antreten. Es wird gefragt, ob das Geschriebene wahr ist. Natürlich wagt keiner, ein Wort zu antworten.
In einer der nachfolgenden Nächte tritt dann die Kameradenjustiz, aufgestachelt durch den Hauptscharführer, in Aktion. Der Straffällige wird 'gewickelt' und dann mit Koppeln und Riemen verdroschen und geschlagen. Durch die massive Züchtigung läuft der Betroffene ein paar Tage ziemlich angeschlagen herum. Er ist eine Zeitlang dienstunfähig."
Bei einem anderen Lagerteilnehmer, der sich ebenfalls abfällig über die Schulung im Hochlandlager äußert, wird die politische Einstellung der Eltern überprüft. Der Lagerführer erwägt sogar, den Jugendlichen bei einer Scharfschieß-Übung durch einen vorgetäuschten Unfall umbringen zu lassen.
Wer sich als Kriegsfreiwilliger meldet, wird bevorzugt behandelt: "In der Marschkolonne schreiten diese vorweg. Umso mehr sind die anderen Schikanen ausgesetzt. Manche lassen sich überreden und unterschreiben mehr oder weniger unter Zwang."
Der psychische Druck ist enorm. Jeder einzelne dieser Buben ist seinem jeweiligen Vorgesetzten bedingungslos ausgesetzt. Zwar besteht ein Beschwerderecht beim Lagerführer. Aber dieses auszunutzen, "hieß, auf sich selber schießen, und die Ausbilder hätte man erst recht gegen sich aufgehetzt.
Natürlich gab es auch Strafübungen und Strafexerzieren - zum Beispiel dann, wenn man schlecht geschossen hat.
Dann wurden wir in den Wald gejagt und mussten manchmal auch durch Drecklöcher robben."
Dokumentation I: Die besorgten Mütter
Im August 1934 erscheinen im Königsdorfer HJ-Lager zwei Ausgaben einer Lagerzeitung. Die Artikel darin geben einiges vom Selbstverständnis der damaligen Zeit wieder. Darum einige Kostproben:
"Es gibt zwei Arten Mütter. Zuerst jene, die ihren Jungen nichts in den Weg legen, die einer harten männlichen Erziehung zugetan sind und ihre Jungen richtig austoben lassen. Die andere Art, der wir Jungen ganz besonders zugetan sind, ist die, die ihren verehrten Sohn als ein überaus zerbrechliches Glasgebilde ansehen, das gar nicht zart genug angefasst werden kann. Schrecklich muss so ein 'Glasperlenleben' sein.(...) Klar und deutlich sehen wir den Unterschied: Hier Junge, da Knabe."
Dokumentation II: Ein Morgen im Hochlandlager
Lagerromantik: "Allmählich verblaßt der leuchtende Vollmond am Himmel, die Sterne verschwinden und die junge Morgensonne kämpft sich mühsam durch die dicken Schwaden der Talnebel. Wie Pilze tauchen die Spitzen der grauen Zelte aus dem Nebelmeer.
Ein schmetterndes Fanfarensignal durchschneidet den erwachenden Morgen und bringt in die einzelnen Zelte Bewegung. Hier schaut ein Kopf verstohlen durch den Zeltschlitz. Dort erscheinen zuerst zwei lange Beine unter den grauen Planen, denen langsam und gewunden dann der übrige Körper folgt.
Überall kommt nun Leben in die Landschaft. Nur mit der Turnhose oder mit einem Trainingsanzug bekleidet beginnen einzelne Gruppen mit der Morgengymnastik. Andere springen mit flatterndem Handtuch zum nahen Bache. Dort machen einige nach Vorschrift von Pfarrer Kneipp einen exakten Stilllauf im frischen Morgentau.
An der Verpflegungsstation ist gerade die warme Morgenration angekommen. Auf großen Handwagen stolpern schwere Zinnkübel ihrem Bestimmungsort zu. In langen Reihen warten bereits junge Pimpfe und Jungens und stürzen sich mit starkem Appetit auf den dampfenden Morgenimbiss. Überall sieht man mampfende, kauende Gesichter lachend ihre rundlichen Bäuchlein streichen, die ein beredtes Zeugnis, von dem von Heimwehbrüdern
verbreiteten Hochlandhunger ablegen.
Ein dreimal langgezogener Pfiff ruft nun auch noch die letzten verdauenden Gestalten aus den Zelten, die Scharen treten an. Stramm und schneidig meldet der Scharführer dem Sportlehrer die Antrittsstärke seiner Abteilung und übergibt sie ihm zur Ausbildung. Mit dem Lied 'Volk und Gewehr' zieht sie ab. Von allen Seiten marschieren singende Abteilungen zum Übungsplatz."
Dokumentation III: Der Sonne entgegen
Propaganda und Leibesertüchtigung: "Aus Anlass des gigantischen Sieges des Deutschen Volkes über Hader und Zwietracht marschierte in der Nacht von Sonntag auf Montag die gesamte Lagerbesatzung des Hochlandlagers in einem Reisemarsch nach Murnau. Es sollte dies Ausdruck des Kampfwillens der HJ sein.
Am 30. Januar 33 war die Nation aufgebrochen, heute marschiert sie weiter in den Morgen des jungen nationalsozialistischen Deutschlands."
Hauptsache Arier:
Wer nicht passt, wird sterilisiert
Vage Diagnose genügt bereits
Magdalena S., 31 Jahre alt, landwirtschaftliche Arbeiterin aus Hohenschäftlarn ist depressiv. Das heißt, sie gilt als depressiv, denn Amtsarzt Dr. F. aus Starnberg ist sich nicht ganz sicher: "Die Frage, (...) ob manisch-depressives oder
schizophrenes Irrsein vorliegt, muss (...) offengelassen werden".
Doch diese vage Diagnose reicht im Jahr 1934 aus, dass die AOK Wolfratshausen und die staatlichen Mediziner auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichts in München das Leben von Magdalena S. zerstören dürfen. Die junge Frau, so das Urteil, soll keine Kinder haben.
Zur Zwangssterilisation wird sie ins Wolfratshauser Krankenhaus eingeliefert. Eine Routinesache für den stellvertretenden Krankenhausarzt Dr. R. Über die Operation am 12. Januar 1935 vermerkt er lapidar: "Bei dem Eingriff wurden die Eileiter durch Keilexcision entfernt. Die Operation verlief regelgerecht. Die Wunde heilte in acht Tagen ohne Nebenwirkungen" - wirklich?
Kein arischer Herrenmensch?
Der Fall S. ist nur einer von vielen ähnlichen im Landkreis Wolfratshausen. Grundlage dieser unmenschlichen Handlungen ist das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933. Es richtet sich gegen all jene, die Hitlers Ideal vom "arischen Herrenmenschen" nicht entsprechen.
Hierzu zählen laut NSDAP neben Hilfsschülern, auch Epileptiker, Schizophrene sowie Menschen, die an erblichen Mißbildungen leiden. Das sind auch - welche Perversität - erbliche Blind- und Taubheit (sogar Nachtblindheit), angeborene Hüftverrenkungen, Kleinwüchsigkeit und schwerer Alkoholismus.
Dr. R. am Wolfratshauser Krankenhaus ist ein Übereifriger. Denn zu jener Zeit, als die Zwangssterilisation von Magdalena S. angeordnet, wird, gehört die Wolfratshauser Klinik (Foto) noch nicht zu jenen, denen die Nationalsozialisten überhaupt die Genehmigung zu solchen Operationen erteilt haben.
Am 27. Februar 1935 schreibt R. deshalb an die Bezirkskrankenhaus-Verwaltung in Starnberg: "Wir bitten,
die Genehmigung nachzusuchen, dass das Bezirkskrankenhaus Wolfratshausen zur Ausführung von Unfruchtbarmachungen im Vollzug des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ermächtigt wird." Zwei Wochen später kommt der erwünschte Bescheid.
Ein dunkles Kapitel in der Geschichte des alten Wolfratshauser Krankenhauses:
In den 30er Jahren wurden hier zahlreiche Zwangssterilisationen durchgeführt.
Eifrige Wolfratshauser ÄrzteDer Drang der Wolfratshauser Ärzte, es ihren eigenen Mitbürgern unmöglich zu machen, eigene Kinder zu bekommen, ist sogar dem Bayerischen Innenministerium unheimlich. In einem vertraulichen Schreiben vom August 1934 wird kritisiert, dass Unfruchtbarmachungen "in einigen Fällen auch ausgeführt (wurden), obwohl sich an den Geschlechtsorganen oder auch an anderen Körperteilen der Betroffenen entzündliche Vorgänge abspielten".
Denn selbst in der Diktatur ist das Thema umstritten. Es gilt höchste Geheimhaltung: "Die an dem Verfahren oder an der Ausführung des chirurgischen Eingriffs beteiligten Personen sind zur Verschwiegenheit verpflichtet."
Wer sich nicht daran hält, dem droht bis zu einem Jahr Gefängnis. Und die örtlichen Polizeistationen werden vom Bezirksamt Wolfratshausen immer wieder aufgefordert, die Stimmung bei den Leuten zu erkunden.
"Geistliche nicht einverstanden"
Am 11. November 1935 teilt der Vorsteher der Gendamerie Ammerland mit: "Im ganzen Dienstbezirk wird die Auswirkung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nur begrüßt, insbesondere in solchen Gemeinden, die wegen solchen erbkranken Nachwuchses hohe Lasten zu tragen haben."
Von Gegnern des Gesetzes weiß der Polizist nichts, "weil die gute Auswirkung jedem denkenden Menschen klar geworden ist". Lediglich "die einzelnen Geistlichen sind mit dem Gesetz nicht einverstanden".
Aber die Ortspolizei soll auch denunzieren. Sie muss Listen über "auffällige Personen", die zwangssterilisiert werden sollen, anfertigen. Am 8. März 1936 besiegelt der Hauptstationsleiter R. aus Wolfratshausen
das Leben von elf Menschen: Zum Beispiel, das des verheirateten Hilfsarbeiters Johann M. aus Farchet. Er sei "Gewohnheitssäufer und Raufbold". Ans Messer geliefert wird auch Karl D., der "geistig sehr minderwertig und Analphabet ist".
Auch vor Parteimitgliedern wird nicht Halt gemacht: Die Gendamerie Deining meldet Anfang April 1936, dass der Bauer Anton L., Zweiter Bürgermeister von Ergertshausen, "einen Sohn namens Karl (hat), der durch einen Wasserkopf körperlich sehr verunstaltet ist, und auch etwas geistesschwach sein soll."
Karl D. wird zur Zwangssterilisation ins Krankenhaus Wolfratshausen eingeliefert. Ein Widerspruch gegen die Urteile
des Erbgesundheitsgerichts ist nicht möglich.
Widerstand ist sinnlos
Um Opfer für Sterilisationen zu finden, ist den Nationalsozialisten im Bezirk Wolfratshausen jedes Mittel recht. Über die 40jährige Bäuerin Katharina H. wird von der Orts-Polizei Königsdorf am 24. Juni 1935 an das Bezirksamt gemeldet, dass sie während des 1. Weltkriegs für kurze Zeit in einer Nervenheilanstalt war. Dort wurde sie aber als geheilt wieder entlassen.
Dem Bezirksamt genügt dieser Hinweis. Es fordert weitere Akten über Katharina H. an - sie ist bereits Mutter von zwei gesunden Kindern - und schickt sie am 9. Januar 1935 an das Erbgesundheitsgericht. Dort wird ein schnelles Urteil gefällt. Für den 27. Februar 1935 wird die Unfruchtbarmachung der Bäuerin angeordnet. Sie wird aufgefordert, sich "binnen 14 Tagen" in der Universitäts-Frauenklinik München oder im Krankenhaus München-Schwabing zu melden.
Katharina H. weigert sich. Der Termin verstreicht. Am 27. Juni 1935 fragt das Bezirksamt Wolfratshausen an,
"wann Ihre Unfruchtbarmachung vorgenommen wurde." Katharina H. antwortet nicht. Drei Wochen vergehen. Sie erhält eine erneute Vorladung, sich zur Zwangssterilisation zu melden. Ende Juli schreibt sie an das Bezirksamt, dass ihr Glaube eine solche Operation nicht zulasse. Nun droht die Behörde der Frau, dass sie "unter Polizeizwang" eingewiesen werde.
Katharina H. gibt auf: Am 1. Oktober wird sie in München operiert. 16 Tage später darf sie wieder nach Hause. Da die Familie arm ist - unter anderem lebt noch der 82jährige Vater mit im Haus - bittet Ehemann Johann das Bezirksamt Wolfratshausen um Rückerstattung der Kosten für die Bahnfahrt. Es folgt ein längerer Briefwechsel, bis H. schließlich endgültig mitgeteilt wird, dass die Familie die Kosten für die Zwangssterilisation selbst zu übernehmen hat.
Ganze Familien betroffen
Hitlers Programm zur "Auslöschung unwerten Lebens" trifft anderswo ganze Familien. In Moosham werden zur Jahreswende 1937/38 die vier Kinder des Bauern M. zwangssterilisiert. Maria (geboren 1902), Johann (1905), Therese (1909) und Georg (1914) hatten sogar noch ein Gnadengesuch an Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess geschrieben - vergeblich.
Zwangssterilisiert werden Frauen und Männer auch auf bloße Verleumdungen hin. In Deining ist davon unter anderem die 1915 geborene Anastasia H. betroffen. Der Orts-Gendarm will "auf vertraulichem Wege" herausgefunden haben, dass "die H. in sittlicher Beziehung nicht recht gut (ist). Sie soll dauernd zwei Burschen nebeneinander haben und mit diesen geschlechtlich verkehren. (...) Dass nun die H. geistesbeschränkt sein kann, geht daraus hervor, dass bereits eine Tante von ihr (die Bauerstochter Rosina H.) in einer Irrenanstalt untergebracht ist".
Das Schicksal von Anastasia H. ist mit diesem Schreiben besiegelt.
Mitarbeit:
Andreas Salch