Ende I

Die SPD-Fahne versteckt:
"Franzl, heb Sie gut auf"




Rote Nazitöter, Weidacher Wilderer

Das Wolfratshausen der 20er Jahre ist bayerisch, katholisch, erzkonservativ, ein großes Dorf mit nicht einmal 2000 Einwohnern. "Kohlrabenschwarze Finsternis brütete über dem düsteren Ort", schreibt Franz Buchner in seiner 1938 erschienenen Geschichte der Nationalsozialisten im Landkreis Starnberg: "Kamerad! Halt aus!"

Im Nachbarkreis nimmt die Nazi-Bewegung des Oberlands auch ihren Anfang: Im März 1925, wenige Tage nachdem der aus der Landsberger Festungshaft entlassene Adolf Hitler die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) wieder gegründet hat, treffen sich die Braunen in Starnberg. "Hitler treu ergeben, treu bis in den Tod, Hitler wird uns führen einst aus dieser Not", singen Franz Buchner und seine Freunde. Und: "So wenig ein Gelehrtenhirn an dem Naturgesetz der Schwerkraft zweifelt, (...) so wenig zweifeln wir an der Mission Hitlers, am Sieg seiner Idee."

Franz Buchner muss sich indes noch gedulden. In Wolfratshausen hat die NSDAP vorerst keine Chance. Das bekommt der staatliche Vermessungsbeamte selbst zu spüren, als er im Frühjahr 1927 wegen seiner politischen Tätigkeit nach Wolfratshausen strafversetzt wird: "Zur Geschäftsaushilfe (...) auf ein Vierteljahr zunächst". Buchners erster Eindruck von Wolfratshausen: "Das Kreisstädtchen beherbergte neben einer Judenschule auch eine Auslese von Angehörigen des erwählten Volkes in seinen Mauern. (...)."

Die braunen Parteigänger wagen sich in diesen Tagen das erste Mal an die Öffentlichkeit. Buchner: "Eine öffentliche Versammlung der NSDAP im Bernrieder Hof (der heutigen Musikschule, der Autor) mit Parteigenossen Hans Dauser war die Antwort auf den Druck Israels. Es blitzte zum ersten Mal in dem dusterroten Viertel. Eine Handvoll roter Nazitöter mit einigen Weidacher Wilderern und ein paar Dutzend Spießer wagten sich in das unsichere Wetter einer Hitlerversammlung.

Daneben blühte, wie überall in Deutschland, auch in Wolfratshausen ein Sträußlein Hitleranhänger im Verborgenen. Karl P., der sich manche Naziversammlung vorzubereiten traute, unterstützt von seiner ebenso fanatischen wie tapferen kleinen Frau Emilie und ihrem Bruder Ludwig B., Lorenz K., der Schuhmacher Sch. und der Uhrmacher M. brachen die ersten dünnen Lanzen für Hitler in Wolfratshausen. Oberleutnant B., Hille (später Gründer der Ortsgruppe, der Autor) und L. von Weidach streuten Körnchen in den schwarzen Winkel."

Am Sonntag, 18. November 1928, starten Buchner und Genossen einen neuerlichen Versuch, die Partei in Wolfratshausen zu etablieren: "Im Bernrieder Hof sollte die Versammlung steigen. Aber die Sache war schlecht vorbereitet. Plakate waren erst am Vorabend geklebt worden, und die Eintrittskarten hatte der Gau zu spät geliefert, so dass sie nicht mehr ausgegeben werden konnten. Das Inserat in der Lokalpresse fiel ebenso aus. Der Verlag hatte Barzahlung gefordert. Schien uns bereits zu kennen. Bilanz: Nicht gesprochen! Prestige, Geld und Zeitverlust!"

Wolfratshausen in den 30er Jahren:
Wolfratshausen in den 30er Jahren: "Schlapp und wurstig".


Kein Mensch bei den Hakenkreuzlern

Eine Woche später halten die Nazis in Münsing eine Kundgebung ab. Das "Wolfratshauser Tagblatt" berichtet darüber, "nimmt zum ersten Mal Notiz von uns unbekannten Hansln", wie Buchner schreibt. Zufrieden kann er mit der Berichterstattung nicht sein.

Die Zeitung am 30. November 1928: "Einen bösen Reinfall erlebten die Hakenkreuzler  mit ihrer angekündigten  Versammlung am vergangenen Sonntag in Münsing, beim Alten Wirt. Kein Mensch hat der Einladung Folge geleistet, so dass der Saal bis auf den Einberufer, Herrn Max Ederer, Starnberg, und den Referenten, Herrn  Vermessungsassistenten Franz Buchner, Starnberg, leer war. Was blieb anderes übrig, als dass man sich nach  geduldigen Zuhörern umsah.

Man zog nun um in die Gaststube, und dort entledigte sich der Redner in der Schlagwortpolitik seiner Partei des Vortrages. Zur Deckung der Unkosten versuchten sie nun eine Sammlung zu veranstalten, die ihnen aber von gewisser Seite (Polizei) nicht erlaubt wurde, so dass es lediglich bei einer freiwilligen Spende von ganz wenigen blieb.
Im ganzen waren aber nur zirka zehn Personen anwesend, die möglichst wenig oder gar keine Notiz vom Vortrag genommen haben. Auch die im Nebenzimmer tagende Versammlung (Kath. Burschenverein!) nahm keine Notiz von den Hakenkreuzlern."

Die damalige Pleite muss den späteren NSDAP-Kreisleiter Buchner sehr verärgert haben. Noch zehn Jahre danach hadert er mit dem Zeitungsredakteur: "Aus! Lieber Schreiberling! Vielleicht kannst du dich noch an deinen Artikel erinnern. insgeheim, meine ich. Ich weiß, du schämst dich heute, damals so blöd gewesen zu sein. Denn erstens
war dein 'Bericht' erlogen, das weißt du besser als wir. Zweitens war er dumm aufgezogen. Das hast du freilich nicht gemerkt. Durch ihn erfuhren nämlich erst viele hundert Volksgenossen in den kleinen Dörfern um Wolfratshausen, dass es überhaupt Nationalsozialisten, Hakenkreuzler, Hitlerleute gab. Ohne Deinen Bericht hätten sie diese Tatsache wahrscheinlich erst viel später erfahren."

Der Bericht des Tagblatts - ob richtig oder falsch, wer weiß das 57 Jahre später - schlägt Wellen. Ludwig B zum Beispiel, Finanzangestellter und einer der ersten Wolfratshauser Nazis, behauptet in einem Leserbrief an das Wolfratshauser "Käseblatt" (Buchner), dass die "Ausführungen des Referenten von zirka vierzig Personen mit reichem Beifall aufgenommen wurden".


Wolfratshauser "schlapp und wurstig"


Bis zum 1. Mai 1929, so ordnet es der mächtige Gauleiter in München an, soll auch in Wolfratshausen endlich eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet werden. Ein  nächste Anlauf Buchners, er schlägt allerdings wieder fehl: "Parteigenosse Hans Dauser wird predigen. Er kam auch, zuverlässig wie immer, haute aber umgehend wieder ab. Denn im oberen Saal des 'Humplbräu' harrten ganze 4, mit Worten vier, Versammlungsbesucher auf die Offenbarungen über 'Weltfreimaurerei - ihr geheimes und verbrecherisches Wirken'. Die vier Geduldigen waren:
zwei Kollegen vom Vermessungsamt, der Finanzler B. und der Apotheker H. Fünf Interessenten hatten zur Türe reingeschaut, waren aber wieder fortgegangen, weil nicht mehr da waren. Schlapp und wurstig dösten die  Wolfratshauser durch die Zeit."

Sonntag, 12. Januar 1930: Noch ein Versuch. Buchner berichtet: "Mittags 1.30 Uhr mit Postauto nach Wolfratshausen. Zu Fuß nach Kirchdorf Gelting. (...) Sibirische Kälte. Wadenhoher Schnee. In der Dorfschenke mümmeln drei Bauern hinterm Kachelofen. Nach einer Stunde sind es zwölf. (...) Der Wolfratshauser Anzeiger warnt vor dem Naziapostel."


 Der "Deutsche Tag"  war 1931 eine erste Machtprobe der Nazis in Wolfratshausen.



"Kommt in Massen, Fahnen heraus"

Ein Jahr später beugt sich auch Wolfratshausen dem Geist der Zeit. Mit einer Handvoll Freunde gründet Franz Hille, ein junger Bankangestellter aus Dorfen, in Wolfratshausen eine Ortsgruppe der NSDAP. Im selben Jahr findet eine Großkundgebung statt: Der "Deutsche Tag in Wolfratshausen" am 19. April 1931. In der Zeitungsanzeige dazu heißt es: "Kommt in Massen" und "Fahnen heraus". Dem Geist der Oberlander Bevölkerung entsprechen wollend, hängt sich die Partei ein religiöses Mäntelchen um: Für 10 Uhr wird bei der "großen Volksversammlung mit SA-Musik" zu einem gemeinsamen Kirchgang eingeladen.

Es bleibt bei einer Einladung. Der streitbare Pfarrer Matthias Kern, ein entschiedener Gegner der Nationalsozialisten, veröffentlicht einen Tag vor der NSDAP-Kundgebung im Wolfratshauser Tagblatt eine Erklärung, in der es unter anderem heißt: "Ich begrüße von Herzen jeden Besucher der Pfarrkirche beim Gottesdienste, mag er in der Pfarrei wohnen oder von auswärts kommen. Doch mache ich darauf aufmerksam, dass gemäß den Weisungen der Bischöfe Bayerns die Teilnahme von Nationalsozialisten an gottesdienstlichen Veranstaltungen in geschlossenen Kolonnen mit Uniform verboten ist und verboten bleibt. (...) Es wäre Missbrauch des Kirchganges, wenn er  Demonstrationscharakter tragen sollte."

Der Einspruch des Priesters hat Erfolg. Der angekündigte Kirchgang unterbleibt, gleichwohl aber kommen viele Besucher des "Deutschen Tags" in Parteiuniform in den Sonntags-Gottesdienst. Pfarrer Kern versucht die Situation zu retten. Er lädt die Nationalsozialisten ein, weiter nach vorn zu kommen, "was die Teilnehmer auch größtenteils befolgten".



Des Kooperators wirres Zeug

Die Kirche bleibt indes der Hauptkonkurrent der Nazis im streng gläubigen Wolfratshausen. An Heiligabend 1931 veröffentlicht "Die Front", das vom Münchner Gauleiter Adolf Wagner herausgegebene Kampfblatt der NSDAP, einen Hetzartikel über den Religionsunterricht von Kerns Mitarbeiter, Kooperator Josef Wolf.

In seiner Erwiderung im "Wochenblatt" schreibt Pfarrer Kern unter anderen: "Ich möchte glauben, dass es in der ganzen Erzdiözese keinen Katecheten gibt, der so zusammenhangloses, wirres Zeug im Unterricht vorbringt,
wie da Herrn Cooperator in Mund gelegt wird. Wer Herrn Cooperator kennt, kann darüber nur lachen. Aber nicht zum Lachen ist es, wenn zwei hiesige Herren der genannten Partei an einen Schulbuben sich wenden, um ihn auszufragen. Und nicht zum Lachen ist, wenn jemand für Tatsache hält, was er in einen allzu phantasievollen Jungen hinein gefragt hat."

Ein Jahr vor der Machtübernahme reagiert die Partei auf die Erklärung des Pfarrers noch sehr zögerlich - und auch nur mit einem anonymen Brief im  "Wochenblatt". Dort steht am 8. Januar 1932, dass "keineswegs ein Werturteil über die Katechese des Herr Cooperators Wolf" gefällt werden sollte, dass aber "die Forderung nach Entpolitisierung der Schuljugend (...) gewissen Kreisen nur zur Verschleierung einer sehr eindeutigen, sogar parteipolitischen Verhetzung der Schuljugend dient".

Die zitierten Schulbuben hätten "aus freien Stücken über die Vorgänge in der Religionsstunde" berichtet. Und: "Angesichts solcher Bestätigung christlicher Nächstenliebe könnte einem gut katholischen und anständigem Nationalsozialisten das Lachen allerdings vergehen." - Gut katholisch und nationalsozialistisch, ein Scherz?



Das Rathaus wird besetzt

Ihr wahres Gesicht zeigen die Nazis im Oberland gut ein Jahr später. Auf die Nachricht von Hitlers Machtergreifung am 30. Januar 1933 reagieren die Wolfratshauser indes noch gelassen und ruhig. Bei einer Versammlung des Katholischen Gesellenvereins (heute: Kolpingsfamilie, der Autor), herrscht die Meinung vor, Hitler sei ebenso wie seine Vorgänger als Reichskanzler bald abgesägt.

Dabei ist die NSDAP auch in Wolfratshausen der politische Hoffnungsträger. Bei den Reichstagswahlen am 6. November 1932 beträgt ihr Stimmenanteil rund 25 Prozent, bei den letzten freien Wahlen am 30. März 1933 holt die Partei 42 Prozent der Stimmen (539). Die erzkonservative Bayerische Volkspartei kommt nur auf 512, die SPD auf 244, die Kommunisten auf 61 ebenso wie die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot. Und 11 Stimmen erhält der Bayerische Bauernbund.

Zwar wird Bürgermeister Hans Winibald (Volkspartei) damit im Amt bestätigt - aber das kann die Entwicklung nicht aufhalten. 1948, 15 Jahre später, erinnert sich Winibald an jene Nacht (10. März), als sich die "braune Finsternis" über Wolfratshausen senkte: "In einer Nacht im März 1933 besetzten die Nazis (unter Anführung eines gewissen Hille) das Rathaus und das Landratsamt, hissten die Hakenkreuzflagge und stellten bewaffnete Posten auf. Der bestehende Gemeinderat (...) erhob dagegen Protest, doch Macht ging vor Recht."


 Bürgermeister Hans Winibald


Ein Demonstrationszug aus SA und SS formiert sich gegen Mitternacht. Erst werden am Bezirksamt die Hakenkreuzfahne und das schwarz-weiß-rote Reichsbanner aufgezogen, dann auch am Rathaus. Der Kreisleiter der
Partei, Lederer, hält eine Propagandarede. Nach einem dreifachen "Sieg heil" ist das SA-Lied "Die Fahne hoch" zu hören - das erste aber wahrlich nicht das letzte Mal auf dem Wolfratshauser Marienplatz.

Der Putsch wirkt gespenstisch. Die einheimische Bevölkerung beteiligtsich kaum an dem Marsch, dafür aber viele auswärtige Parteimitgliederund die SA-Kapelle aus Dietramszell.

"Da Franzl, heb sie gut auf, vielleicht brauchen wir sie ja noch einmal", mit diesen Worten übergibt Bürgermeister Hans Winibald die Wolfratshauser Fahne an den langjährigen Gemeindesekretär und SPD-Gemeinderat
Franz Geiger.


  Franz Geiger (SPD)



Schrott verliert - und gewinnt

Hans Winibald ist entmachtet. Er darf im April zu den Gemeinderatswahlen nicht einmal mehr antreten. Dafür aber Alois Hugo, ebenfalls Bayerische Volkspartei. Er setzt sich von den Stimmen her gegen seinen nationalsozialistischen Mitbewerber Edmund Schrott, einen pensionierten Eisenbahnbeamten, durch - aber das zählt jetzt nicht mehr.

Das "Gesetz zur Gleichschaltung der Gemeinden und Gemeindeverbände mit Land und Reich" manifestiert die Alleinherrschaft der NSDAP - auch in Wolfratshausen. Schrott wird Bürgermeister. Er ist 60 Jahre alt, wohnt in der heutigen Littig-Villa und ist in Wolfratshausen bis dahin öffentlich nicht in Erscheinung getreten. Später kauft Schrott das Haus Obermarkt 8, in dem er bis zu seinem Lebensende im Mai 1947 wohnt. Der entmachtete Winibald nennt Schrott nach dem Zusammenbruch "einen eifrigen Parteigänger".

Parteigegner bekämpfen die neuen Wolfratshauser Machthaber rigoros. Den langen Arm der Diktatur bekommt vor allem die örtliche SPD zu spüren. Mehrere Genossen werden in "Schutzhaft" genommen, darunter der Weidacher Fritz Bauereis und auch Franz Geiger - den Ortsgruppenführer Hille am 14. April für 13 Tage verhaften lässt.

Der 1884 geborene Wolfratshauser ist  gelernter Schreiner. Bei einem Betriebsunfall verlor er als 20-Jähriger den linken Arm und sattelte um: Er wurde Gemeindeschreiber und saß jahrzehntelang für die SPD im Gemeinderat. Als Grund für seine Verhaftung geben die Nazis eine Störung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung an.


Von der Schande zur Ehre

Die Verhaftung kann den unbeugsamen Franz Geiger  indes nicht von seiner Überzeugung abbringen. Er sitzt als einer von zwei SPD-Vertretern weiterhin im Gemeinderat. Auf dem Papier haben die Nationalsozialisten (vier Räte) nicht einmal die Mehrheit gegen die Volkspartei (vier Räte), faktisch aber regieren nur noch die Braunhemden.

Die erste Amtshandlung: Reichspräsident Hindenburg, Reichskanzler Hitler und Gauleiter Adolf Wagner werden zu Wolfratshauser Ehrenbürgern ernannt. Franz Geiger tanzt wieder einmal (gefährlich weit) aus der Reihe. Er stimmt nicht nur gegen die Verleihungen der Ehrenbürgerwürde, er beschwert sich auch vehement über einen Passus in der vorgefertigten Laudatio auf Adolf Hitler: "Von der Schande zur Ehre", dieser Satz ist Geiger ein Gräuel.

Am 4. Juli wird der Sozialdemokrat seines Gemeinderats-Amts enthoben. Drei Wochen vorher hatte ihn Bürgermeister Schrott mit Zustimmung des Gemeinderats aus dem Gemeindedienst gefeuert. Geigers Pension wird
vom Gemeinderat auf 124,40 Reichsmark festgesetzt. Der Sozialdemokrat und spätere Ehrenbürger Wolfratshausens (Ernennung 1965) ist nicht der einzige Demokrat, der aus dem öffentlichen Leben entfernt wird.

Bald sitzt die NSDAP allein im Gemeinderat: Mitglieder anderer Parteien haben den Rat entweder verlassen oder sind zur NSDAP gewechselt. Der erste "Wendehals" ist Geigers SPD-Kollege Josef Weigl. Die Nazis heißen den von rot nach braun missionierten Volksvertreter herzlich willkommen. Schrott hinterlässt im Gemeinderatsprotokoll ein Lob über Weigls "mannhaften Entschluss".

Aber Weigl spielt das Spiel nicht lange mit. Am 10. August 1933 verlässt er den Gemeinderat. Alois Hugo, Anton Geiger (beide 30. Mai), Josef Schweiger und Bartholomäos Graf (beide 4. Juli) gingen diesen Schritt schon vor ihm. Auf sieben Mitglieder hat sich der Gemeinderat bis Herbst 1933 dezimiert.


"Ein Krimineller war er nicht"

Die politische Macht hat die NSDAP nun, aber zur gesellschaftlichen
Führung fehlt es am Personal. Mit neuen Kräften soll der Ort in Schwung gebracht werden. Und dafür muss nun Kaspar Obermaier sein Amt abgeben. Der Wolfratshauser Geschäftsmann war Hilles Nachfolger als Ortsgruppenleiter der NSDAP von der Machtübernahme bis zum Juni 1935.


Ortsgruppenleiter Kaspar  Obermaier in jungen Jahren.


Am 13. Juni 1935 feuert Kreisleiter v. Transehe auch Bürgermeister Schrott. Was wohl für einiges Gerede in Wolfratshausen sorgt, denn Transehe schreibt im (nun schon NSDAP-eigenen) Wolfratshauser Tagblatt: "Die unsinnigen Gerüchte, die im Zusammenhang mit dem Rücktritt des 1. Bürgermeisters der Marktgemeinde Wolfratshausen, Edmund Schrott, im Umlauf sind, entbehren jeder Grundlage."

Die Suche nach einem neuen Amtsvorsteher dauert peinlich lang. Erst am 15. Februar 1936 präsentiert die Partei einen Nachfolger für Schrott. Er stammt aus Waging am See. Es ist der gelernte Automechaniker Heinrich Jost, NSDAP-Mitglied seit 1. Februar 1932, Mitgliedsnummer 916936. Er bezieht mit seiner Ehefrau (sie tritt der Partei 1938 bei) und den beiden Kindern die Bürgermeister-Dienstwohnung (fünf Zimmer und Küche) im Obergeschoss des Rathauses.

Bis zum Ende des 1000-jährigen Reichs bleibt Jost, Jahrgang 1897, der mächtigste Mann in Wolfratshausen - als Bürgermeister und Ortsgruppenleiter. Stadtpfarrer Ulrich Wimmer (Jahrgang 1935), der sich als Kaplan 1965/66 zweimal mit Jost zu Gesprächen über dessen Wolfratshauser Jahre traf, urteilte damals  über ihn: "Der Jost war sicher
ein überzeugter Nazi, ein Krimineller war er nicht."



Die NS-Bürgermeister im Landkreis Wolfratshausen

Weidach: Maurus Kerschbaumer, Bauunternehmer;
Wolfratshausen: Edmund Schrott, Gutsbesitzer, (ab 1936: Heinrich Jost) ;
Gelting: Nikolaus Negele, Gütler, (Josef Niklas) ;
Icking: Johann Pischeltsrieder, Landwirt;
Egling: Bogmair, Privatier, (Sebastian Lautenbacher);
Herrnhausen: Peter Rumelsberger, Landwirt;
Beuerberg: Franz Zimma, Wagner;
Thankirchen: Suttner;
Dietramszell: Johann Jaud, Landwirt, Kaufmann und Bäcker;
Sauerlach: Georg Taubenberger, Sägewerksbesitzer;
Münsing: Benedikt Streitberger, Schreiner;
Degerndorf: Georg Bolzmacher, Landwirt (Bayerische Volkspartei);
Neufahrn: Jakob Dissinger, Landwirt, (Josef Seitner);
Deining: Dionys Rieger, Landwirt;
Moosham: Johann Huber;
Schäftlarn: Gustav Veith, Kaufmann;
Thanning: Georg Meyr;
Manhartshofen: Joachim Wolf;
Endlhausen: Valentin Gröbmair, Landwirt;
Höhenrain: Josef Hauser, Gastwirt, (Anton Leitner, Bäcker);
Eichenhausen: Franz Beil, Landwirt;
Dingharting: Peter Pettinger, Landwirt;
Straßlach: Johann Kaiser, Landwirt, (Josef Spindler);
Holzhausen: Johann Huber, Landwirt (J. Ertl-Grünwald)
Föggenbeuern: Sebastian Mayr;
Dorfen: Josef Loth, Landwirt;
Linden: Josef Mayr (Anton Gröbmair);
Baiernrain: Valentin Mayr;
Königsdorf: Josef Bernwieser, (Ernst Schreyer);
Osterhofen: Josef Stöger, (Lorenz Poschenrieder);
Ergertshausen: Gottfried Schulz;
Ascholding: Kastenmüller;
Altkirchen: Franz Beil;
Baierbrunn: Johann Oberrieder;
Eurasburg: Johann Holzer;
Oberbiberg: Johann Öckler.



Adolf Hitler überall:"... der verleugnet sein Vaterland"

Viel geplant, wenig geschafft

Februar 1936, Heinrich Jost ist nun also der Statthalter der NSDAP in Wolfratshausen. Der Vater von zwei Kindern hat im Jahr Vier des 1000-jährigen Reichs vor allem den wirtschaftlichen Aufschwung im Blick. Denn die Situation des Marktes Wolfratshausen ist äußerst schwierig: Keine Industrie, wenig Gewerbe - dafür aber viel Armut.

Noch vor Josts Amtsbeginn erklärt der Gemeinderat Wolfratshausen offiziell zur "Notstandsgemeinde". Man sei, so heißt es in der Entschließung, "außerordentlich mit Fürsorgeleistungen belastet und der Zuzug von Hilfsbedürftigen nimmt dauernd zu."

Zur offiziellen Nazi-Propaganda jener Zeit passt das ganz und gar nicht. Denn im "Wolfratshauser Tagblatt" war just einen Tag vor dieser Resolution zu lesen gewesen: "Der Bezirk Wolfratshausen ist tatsächlich arbeitslosenfrei." Von zwei Jahre zuvor 564 Arbeitslosen seien lediglich noch  25 übrig.

Wo sind die anderen 539? Hat sich die Arbeit seit 1933 wundersam vermehrt? Sie hat tatsächlich, denn die Nazis führen "Pflichtarbeit" ein. Mit dem Begriff "Arbeitsschlacht" bezeichnen sie die Maßnahmen gegen die Arbeitslosigkeit. Viele der vom Staat finanzierten Arbeitsbeschaffungs-Projekte (heute sagt man ABM, d. Autor) dienen indes schon der Vorbereitung auf kommende Eroberungskriege.

So entstehen schon im März 1934 im Osten des Bezirks Wolfratshausen, bei Sauerlach, durch den Bau der Reichsautobahn München-Salzburg tausende neuer Arbeitsplätze. Dass der Staat seine Gigantomanie nur durch Kredite finanzieren kann, weiß keiner von den Leuten, die nun wieder Arbeit und Broterwerb haben - und Hitler dafür verehren.

Zur Eröffnung des ersten Teilstücks der Autobahn bis Sauerlach, erscheint Adolf Hitler persönlich. Das "Wolfratshauser Tagblatt" berichtet am 30. Juni 1935: "Als nun der Führer, stehend im offenen Wagen, mit erhobener Hand nach allen Seiten grüßend, erschien, flogen die Hände zum Gruße in die Höhe und tausendfach pflanzte sich das 'Heil' fort. Unvergesslich wird der überwältigende Vorgang in den Herzen sein und bleiben."




Bürgermeister Heinrich Jost 1935.



Zum Sieg in der Arbeitsschlacht

Nicht allein zum Autobahnbau werden die Arbeitslosen dienstverpflichtet: 200 Männer sind fünf Monate lang für den Hochwasserschutz mit der (Hochwasser-) Regulierung der Loisach bei Achmühle beschäftigt. Uferbefestigungs-

Arbeiten werden an der Isar durchgeführt (12.000 Arbeitstage) und auch die Begradigung und der Ausbau der unfallträchtigen "Natzikurve" in Weidach (2000 Arbeitstage) an der Reichsstraße 11 dient der Verbesserung der örtlichen Infrastruktur.


Weitere projektierte Maßnahmen sind die Erweiterung der Straße zwischen Straßlach und Bad Tölz (heute Staatsstraße 2072), die Regulierung des Mühlbachs bei Königsdorf und die Trockenlegung von Moorflächen bei Herrnhausen, Gelting und Farchach.


In einem von NSDAP-Kreisleiter v. Transehe (links im Bild) unterzeichneten Schreiben vom 23. März 1934 wird auf die "für den neuen verstärkten Kampf gegen die Arbeitslosigkeit herausgegebenen strengen Richtlinien" hingewiesen.


Da heißt es: "Jeder Bürgermeister und jedes Mitglied des Gemeinderats muss persönlich in jedem Haus und in jedem Hof feststellen, wo noch irgendeine Möglichkeit besteht, einen arbeitslosen Volksgenossen unterzubringen. Hand in Hand mit der Schaffung neuer Arbeitsplätze muss gehen das Suchen nach Arbeitsaufträgen. Jede neue Arbeitsmöglichkeit, und mag sie noch so gering sein, trägt bei zum Siege in dieser Arbeitsschlacht."



ABM à la Hitler: Ein Bild vom Ausbau
der "Natzikurve" der Reichsstraße 11.



Der Wirtschaftsplan Jost

Langfristig wirksam ist die nationalsozialistische "Arbeitsschlacht" nicht. Bürgermeister Jost will darum aktive Wirtschaftsförderung betreiben und stellt dafür ein eigenes Konzept auf. Er nennt es den "Wirtschaftsplan Jost". Die Ziele: Förderung des Fremdenverkehrs, der Wohnungsbau, ein neues Schulhauses, die Errichtung einer kleinen Militär-Garnison.

Das "Wolfratshauser Tagblatt" lobt: "Eine neuartige Gemeinschaftspolitik entwickelte der Bürgermeister in seiner Idee, in zwanglosen Abständen die Bevölkerung zusammenzurufen, um Rechenschaft über seine Arbeit und seine Erfolge abzulegen." Geradezu demokratisch gibt sich Jost. Nur - von einer Einladung zu einer solchen Bürgerversammlung ist nie wieder zu lesen. Wenig erfolgreich ist Jost auch in seinem Bemühen um mehr Fremdenverkehr. Auch das 1934 eröffnete Hochlandlager, ein Ausbildungslager der Hitlerjugend, an der Rothmühle zwischen Königsdorf und Bad Tölz bringt der Marktgemeinde keine Vorteile.

Die Verbesserung des Fahrplans und des Tarifs der Isartalbahn nach München bleiben ebenfalls ohne die erhoffte touristische Bedeutung, auch als die Bahnlinie 1938 verstaatlicht wird. Ein von Jost vorgeschlagener Radwanderweg wird nicht verwirklicht.

Das einzige nennenswerte Ergebnis von Josts Wirtschaftspolitik hat inzwischen über 22.000 Einwohner: Ohne die Initiative des Bürgermeisters hätte es die beiden gigantischen Munitionsfabriken im Wolfratshauser Forst, das heutige Geretsried, wohl nie gegeben.

Jost ist nur eine Marionette der Münchner Gauleitung mit dem gefürchteten  Adolf Wagner an der Spitze. Der Gemeinderat, ein Gremium von "Ja-Sagern", segnet die Beschlüsse des Bürgermeisters jedes Mal kommentarlos ab, wenn er denn überhaupt gefragt wird. Ratssitzungen finden jedenfalls nur mehr sporadisch statt.

Zwei weitere wichtige Entscheidungen Josts fallen erst kurz vor Kriegsende: Bei einer Versammlung am 12. Dezember 1944 erhalten die in Wolfratshausen stationierten Landesschützen den Auftrag, Luftschutzbunker und -stollen für jeweils 140 Menschen zu bauen. Der Luftkrieg hat längst auch Wolfratshausen erreicht.

Am 5. März 1945, gut sechs Wochen vor dem amerikanischen Einmarsch, beschließt Jost den Bau neuer Wohnungen und Behelfsheimen - seine letzte Amtshandlung.



Von Sklavennaturen umbenannt

So schnell wie Heinrich Jost, so schnell verschwinden nach Kriegsende auch andere Insignien der Nazi-Herrschaft. Die Straßennamen etwa. Eine der ersten Entscheidungen des nationalsozialistischen Wolfratshauser Gemeinderats betraf im Frühjahr 1933 die Umbennung von Straßen.

Ober- und Untermarkt heißen fortan Adolf-Hitler-Straße, die Bahnhof- wird zur Hindenburgstraße. Der Paradiesweg heißt Adolf-Wagner-Allee, der Floßkanal Hermann-Göring-Straße, die Alpen- Wilhelm-Gustloff-Straße, die Gebhart- Bismarckstraße und aus der Schießstätt- wird die Dietrich-Eckert-Straße (von dem Hitlerfreund und Journalist wird hier noch die Rede sein).

Dieser Spuk ist mit Kriegsende vorbei: Die amerikanische Militärregierung macht am 6. Juli 1945, zehn Wochen nach dem Einmarsch, alle Namensänderungen wieder rückgängig. In einer Bekanntmachung des von der US-Armee eingesetzten Landrats Hans Thiemo heißt es unter dem Betreff "Austilgung des Nazitums": "Im Jahre 1933 wurde von willfährigen, überschwänglichen Sklavennaturen - nicht von Männern - die alten Straßen- und Wegnamen nach Nazi-'Größen' und 'Reichserneuerern' umbenannt."

Auf eine Liste der neuen-alten Straßennamen folgt die eindeutige Anweisung Thiemos: "Der Gebrauch der bisherigen Nazinamen in Wort und Bild ist bei Strafe verboten. Was an sie erinnern kann, ist zu vernichten."



Die Hand zum Hitlergruß

Nicht allein die Straßennamen sind es, mit denen die Nationalsozialisten ihre Macht demonstrieren. Allgegenwärtiges Symbol zu Hause und auf der Straße ist das Hakenkreuz. Mit Hakenkreuzfahnen beflaggt sind die zentralen Plätze der Marktgemeinde.

Wer immer an einer solchen Fahne vorbeigeht, hat, so bestimmt es das  Reichsflaggengesetz, die Hand zum Hitlergruß zu heben. Das "Wolfratshauser Tagblatt" : "Wer die Fahnen der Bewegung auf offener Straße nicht grüßt, der verleugnet sein Vaterland und gehört nicht zu unserer Volksgemeinschaft."

Zu jenen, die gegen dieses Gesetz laufend verstoßen, gehört der katholische Ortspfarrer Mathias Kern. Bürgermeister Jost erstattet gegen ihn deshalb am 9. November 1937 Anzeige bei Landrat Adolf von Liederscron. Ob der Gesetzesverstoß Folgen hatte, geht aus den wenigen erhalten gebliebenen Akten nicht hervor.

Ein Tag von besonderer Bedeutung für die NSDAP in Wolfratshausen ist der Dienstag, 17. September 1935: Die neugeweihte Fahne wird mit dem Postauto direkt vom "Reichsparteitag der Freiheit" in Nürnberg angeliefert. Die dazugehörige Zeremonie macht deutlich, welchen  Kult die Nazis um ihre Symbole betreiben. Das "Tagblatt" berichtet: "Eine Fahnenabordnung, bestehend aus politischen Leitern sowie der BDM (Bund Deutscher Mädel, d. Autor) hatten sich zum Empfang eingefunden, und unter dem Gesang froher Marschlieder ging es dann zum
Standquartier der Ortsgruppenfahne."



Das Zeichen des Sieges leuchtet


Noch absurder erscheint die Illustration des Kreistags der NSDAP vom 10. bis 14. Mai 1939. Das "Tagblatt" verkündet stolz: "Das Zeichen des Sieges leuchtet ins Tal." Was war geschehen? Auf Anordnung des Bürgermeisters war am Bergwald, auf dem so genannten Fahnensattlerberg, ein großes Hakenkreuz aufgestellt worden.

Es wird nachts rot angestrahlt "und auch in Zukunft bei festlichen Gelegenheiten gute Dienste leisten" (Tagblatt). Allerdings scheint der Parteitag die einzige Gelegenheit gewesen zu sein, dieses überdimensionale Symbol aufzustellen. An die Existenz dieses Hakenkreuzes erinnert sich in Wolfratshausen heute niemand mehr.

Krasser noch treiben es die braunen Machthaber in Bad Tölz und Umgebung. Dort werden bereits im April 1934 ganze Berge umbenannt. Der Heiglkopf und die Wackersberger Höhe (beide nahe beim Blomberg) heißen von da an Hitlerberg und Hindenburghöhe. Auf dem Heiglkopf alias Hitlerberg wird zudem ein zehn Meter hohes, 1200 Kilogramm schweres Hakenkreuz aufgestellt, das nachts von Fackeln beleuchtet wird.

Das Hakenkreuz auf dem Heiglkopf
(beide Bilder aus: "Die NS-Zeit im Altlandkreis Bad Tölz" von Christoph Schnitzer)


Der Blomberg darf im Übrigen seinen Namen behalten, eines Zufalls,einer Namensgleichheit wegen: Werner von Blomberg ist bis 1938 Reichskriegsminister. Noch vor dem Einmarsch der Amerikaner,in der Nacht zum 29. April 1945, wird das Hakenkreuz auf dem Blombergvon einigen Wackersberger Bürgern umgelegt.

Das Hakenkreuz begeistert aber nicht nur die Amtsträger der NSDAP. Ein Bürger der Gemeinde Schönrain (heute ein Ortsteil von Königsdorf) will im April 1934 das mit hellen Ziegeln gedeckte Dach eines neu erbauten Stadels mit dunklen Ziegeln in der Form eines vier mal vier Meter großen Hakenkreuzes decken. Bezirksbaumeister S. in einem Schreiben ans Bezirksamt: "Derartig bemusterte Dachflächen sind im Interesse einer guten Bauweise nicht erwünscht."

Das Hakenkreuz wird tatsächlich  schnell beseitigt, obwohl SA-Sturmführer Mitterpleiniger handschriftlich vermerkt: "Mir ist das Schreiben des Herrn S. wirklich sehr unverständlich. Stört das Hakenkreuz wirklich das Landschaftsbild oder die Bauweise?"

Am Rande: Die Bezeichnung Hitlerberg statt Heiglkopf hat in amerikanischen Archiven bis heute Bestand, wie eine entsprechende Ortsbezeichnung in der Internet-Software "Google Earth" belegt. Anfang März 2007 berichtete darüber die Nachrichtenagentur ddp. Der Artikel schlug bundesweit Wellen. Google sagte daraufhin zu, die Bezeichnung "Hitler-Berg" zu streichen.                      Karikatur von Hans Reiser,  Tölzer Kurier vom 10. März 2007 



Den Juden Spatz gegrüßt - Anzeige

Gar mancher Wolfratshauser nutzt die Machtverhältnisse auch um sich persönliche Vorteile zu verschaffen. Schriftlich überliefert ist ein sehr bezeichnender Vorfall, der sich schon 1934, im Fasching, ereignete.

Da nämlich zeigt der Posthelfer Josef B. die beiden nationalsozialistischen Gemeinderäte Hans G. und Franz K. bei Ortsgruppenleiter Kaspar Obermaier an - wegen eines nach B.s Meinung "abstoßendem Verhaltens". Der Posthelfer gibt zu Protokoll:

"Am Fastnachtsonntag, 11. Februar 1934, fand durch den Markt Wolfratshausens seitens des Faschingskomitees ein Umzug statt (...). Nach Beendigung des Umzugs ist ein Teil der Beteiligten in das Gasthaus zum Humplbräu gegangen, in dessen Gaststube unter anderem der jüdische Viehhändler Hermann Spatz (er wohnte in dem Hotel, d. Autor) anwesend war. Nach Eintritt in die Gaststube begab sich G. an den Tisch des Spatz - den G. angesprochen hat mit den Worten: Ja, der Hermann ist auch da - und hat ihn dann förmlich umarmt. (...)

Die Gaststube war bei dieser Affäre voll besetzt. Ich habe für meine Person an dem Auftreten des G. und K. Anstoß genommen, zu dem sich diese als Nationalsozialisten bekennen wollen und dem Marktgemeinderat als Mitglieder angehörten. Unterzeichneter hat dann den Faschingszug nicht mehr mitmachen wollen, weil ihn dies Verhalten der beiden Genannten abgestoßen hat."

Die Anzeige hat Folgen: Am 18. Mai 1934 befasst sich das Kreisgericht der NSDAP mit der Angelegenheit. G. und K. wird für ein Jahr "die Fähigkeit zur Bekleidung eines Parteiamts" aberkannt.




Interesse an Partei zu gering

Parteimitglied ist nicht gleich Parteimitglied. Die Mitgliedschaft in der NSDAP verrät nicht automatisch den großdeutschen Antisemiten. 400 Wolfratshauser sind zu Kriegsende Mitglied der NSDAP, aber das Interesse an tatkräftiger Mitarbeit in der Partei ist eher gering.

Darüber klagt am 18. Juli 1940 in einer "Anordnung" Ortsgruppenleiter Heinrich Jost. Unter dem Betreff "Teilnahme Ortsgruppen-Geschäftsstunden Donnerstag abends 18.30 bis 20 Uhr" schreibt der Nazi-Funktionär:

"Eine Reihe Mitarbeiter haben wiederholt unentschuldigt gefehlt. Ich bitte alle politischen Leiter bei den großen Aufgaben, die wir gemeinschaftlich zu erledigen haben, die einmal übernommenen Pflichten auch wirklich zu erfüllen und durch ihre Mtarbeit ihre Gefolgschaftstreue zur Volksgememeinschaft der NSDAP unter Beweis zu stellen."



Hitlers "männliche Worte"

Davon können Politiker in der Demokratie nur (vergeblich) träumen: Gerade mal neun ungültige Stimmen werden am 29. Mai 1936 bei den Reichstagswahlen gezählt: 1832 Wolfratshauser stimmen - so heißt es offiziell - für die (alleinige) Liste der NSDAP und damit "für Ehre, Freiheit und Frieden", wie das "Wolfratshauser Tagblatt" schreibt:

"Woche für Woche hatte die Wahlpropaganda eingesetzt, um dem letzten Volksgenossen die Bedeutung des  Wahltages vor Augen zu führen. Es war nicht vergeblich. Das Volk kennt seine Pflicht."

Bereits am Vorabend habe sich die Bevölkerung zu einem "Freudenfest zusammengefunden, um im  Gemeinschaftsempfang die Schlussrunde des Führers mitzuerleben. Uniformen und Festtagskleidung beherrschen
das Straßenbild der Abendstunden. Letzter Aufruf des Kreisleiters vor der Rundfunk-Übertragung der Rede des Führers. Eine dichte Menschenmenge umsäumt die Turnhalle in Wolfratshausen, um die männlichen Worte Adolf Hitlers zu hören."

Nach der Rede des Führers ziehen die NSDAP-Gliederungen in Fackelzügen durch Wolfratshausen. Und am Wahltag selber marschiert der  Bund Deutscher Mädel, BDM, mit Sprechchören durch die Straßen: "Wir Jungen bitten Euch, wählt Adolf Hitler." Es besteht Wahlpflicht.




Nationalsozialist der ersten Stunde

Unzumutbar sind die schulischen Verhältnisse im Wolfratshausen der 30er Jahre. Ein neues Schulhaus muss her, diesen Plan verfolgt NS-Bürgermeister Heinrich Jost seit seiner Einsetzung im Februar 1936.

Nach dem ersten Spatenstich im Dezember 1938 in Nachbarschaft der acht Jahre vorher eingeweihten Turnhalle und nach knapp zwei Jahren Bauzeit, darf am 16. März 1940 gefeiert werden: Im Beisein von Landrat Adolf v. Liederscron wird die Dietrich-Eckart-Volksschule (heute: Volksschule am Hammerschmiedweg) eingeweiht.


1930 wurde von Bürgermeister Winibald der erste Spatenstich
für die Wolfratshauser Turnhalle feierlich begangen.

Noch ein erster Spatenstich: Die Dietrich-Eckart-Volksschule
baute Bürgermeister Jost (Vordergrund) 1938.


Der Krieg ist gut ein halbes Jahr alt, das "Wolfratshauser Tagblatt" schreibt begeistert: "Das neue Schulhaus, ein Wunsch, der seit Jahrzehnten mit des Marktes Wollen und Streben auf das Engste verbunden war, fand seine Erfüllung. Hochgiebelig ragt es über die anderen Häuser des Marktes heraus und ist dem Orte eine Zierde
und der Jugend eine Bildungsstätte, die sowohl dem Körper wie dem Geiste zugute kommt."

Wer aber war Dietrich Eckart, der der Schule (fünf Jahre lang) ihren Namen gab? Der heute nur Historikern bekannte Dichter und Journalist, Jahrgang 1868, war ein Nationalsozialist der ersten Stunde. ein Mitbegründer der NSDAP. Der als belesen geltende Schopenhauer-Verehrer war während und nach dem Ersten Weltkrieg in München eine bekannte Größe und führte als dessen Mentor Adolf Hitler in die dortige Gesellschaft ein.

Er war einer der ideologischen Väter des früheren Nationalsozialismus, Gründer der 1923 eingestellten Zeitschrift "Auf gut Deutsch" und von 1921 an einer der Herausgeber und sogar Chefredakteur des
in München erscheinenden "Völkischen Beobachter".

Eckart war fanatischer Anhänger der Rassenlehre und damit strikter Antisemit. Hitler-Biograph Alan Bullock schreibt über ihn: "Er drückte sich gut aus (...) und hat zweifellos auf den jüngeren und noch sehr primitiven Hitler einen großen Einfluss ausgeübt. Er (...) nahm ihn überall mit hin."

Der morphiumabhängige Autor, als dessen wichtigste Werke der "Lorenzaccio" und eine  Nachdichtung des "Peer Gynt" gelten, lebte auch einige Zeit im Landkreis. In Bichl verbrachte Dietrich Eckart (Bild links) zwei Jahre im Landhaus Schmid (1916 bis 1918) - dort wurde 1934 ein großes Eckart-Denkmal enthüllt - und verweilte einige Male in der "Kathis Ruh", dem früheren Café Panorama in Wolfratshausen.


"Im April 1919 musste er aus München fliehen, nachdem er mit knapper Not, schon verhaftet, den roten Wachen entkommen war. Mit Frau und Kindern kam er nach Wolfratshausen in das Haus des Georg S., wo er sich mit Arbeiten an seiner Zeitschrift 'Auf gut Deutsch' beschäftigte", schreibt das Wolfratshauser Tagblatt anlässlich der Schuleinweihung 1940.   Und weiter: "Im Haderbräu setzte er sich mitten unter die Bürger, die dem glühenden Kämpfer mit Verwunderung zuhören und mit Eifer seinen Gedankengängen folgen."


Eckart soll auch 1923 noch einmal in Wolfratshausen gewesen sein. Im Herbst jenen Jahres lädt der Volksgerichtshof in Leipzig ihn als Staatsfeind vor. Er entzieht sich durch Flucht über Wolfratshausen zum Obersalzberg. Dort erliegt der verdiente Hitler-Anhänger am 26. Dezember 1923 einem schweren Herzleiden.


1934 werden in einem Wolfratshauser Verlag Dietrich Eckarts  Aufzeichnungen über ein Gespräch mit Hitler gedruckt; Titel: "Der Bolschewismus von Moses bis Lenin".




Gleichschaltung der Presse

Zum 1. Januar 1935 verlor das im Verlag Georg Schwankl erscheinende "Wolfratshauser Wochenblatt", der 1866 gegründete Vorläufer des Isar-Loisachboten seine Eigenständigkeit. Fortan erscheint das Wochenblatt nur noch im Untertitel des "Wolfratshauser Tagblatts" respektive "Wolfratshauser Beobachters", einer Lokalausgabe des "Völkischen Beobachters". Gedruckt wird die Zeitung in München.

Die Leser werden am 30. Dezember 1934 folgendermaßen informiert: "Wir hoffen mit dieser Maßnahme, die durch die heutigen Verhältnisse in mancherlei Hinsicht eine zwingende Notwendigkeit wurde, bei unseren Lesern Verständnis zu finden und glauben damit weitgehenden Wünschen nachzukommen. Das Bestehen zweier Zeitungen im verhältnismäßig kleinen Bezirk Wolfratshausen  war schon immer eine unzweckmäßige und für viele Kreise kostspielige Einrichtung."




Der Volksfeind:
Lieber Gott, mach mich stumm





Wie Pfarrer Kern die Nazis austrickst

Die einzige organisierte Gegenkraft zu den Nationalsozialisten ist in Wolfratshausen die katholische Kirche. Bis 1933 finden zweimal im Jahr im Bernrieder Hof (der heutigen Musikschule) und in der Turnhalle religiöse Männertagungen statt. Zu den regelmäßigen Gästen gehört sogar der später selig gesprochene Pater Rupert Mayer, der über Hitler sagte ,,Der Mensch hat ja von Religion keine Ahnung." Gefallen wollen diese Aktivitäten den Nazis nicht.

Die Spannungen zwischen Ortskirche und Partei steigern sich ab 1933 erheblich. Am 25. September ordnet das Bezirksamt Wolfratshausen die Überwachung aller katholischen Vereine an. ,,Jedwelche Betätigung" außerhalb der Kirche wird verboten, mit Ausnahme der ,,unbedingt notwendigen Proben von Kirchenchören sowie im mäßigen Umfang Vorstandssitzungen zur Erledigung von Unterstützungsgesuchen".

Der Wolfratshauser Pfarrer Matthias Kern, erklärter Gegenspieler der NS-Bürgermeister Schrott und Jost, reagiert darauf geschickt. Er bietet den Jugendgruppen die Kirche als Treffpunkt an.

Auch Kerns Mitarbeiter, der Kooperator Karl Schuster, profiliert sich im Kampf gegen das Regime. Kern über Schuster: ,,Ein unnachgiebiger Gegner des Nationalsozialismus, dessen Opfer er schließlich wurde." Die Wolfratshauser Gläubigen bewundern seine Unerschrockenheit, fürchten aber stets, daß Schuster verhaftet wird.

Eine bekannte Redewendung auch in Wolfratshausen heißt: ,,Lieber Gott, mach mich stumm, dass ich nicht nach Dachau kumm." 1939 passiert es tatsächlich, Schuster wird verhaftet: Er kommt erst sechs Jahre später, nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wieder frei.

Der Religionsunterricht in der Landwirtschaftsschule wird 1934 trotz großer Proteste der Schüler abgeschafft. Pfarrer Kern verlegt die Stunden in die Sakristei der Pfarrkirche. Im Jahr darauf ist an Sebastiani letztmals die Beflaggung mit weiß-blauen Fahnen gestattet. Und ab 1936 sind außerhalb der Kirche überhaupt keine Veranstaltungen mehr möglich.

Auch der Orden der "Armen Schulschwestern", der seit 1840 im Markt tätig ist, bekommt die Repressalien der Partei immer mehr zu spüren. 1936 veranlasst Pfarrer Kern eine Stellungnahme aller Eltern, die Kinder in der Bewahranstalt und in der Schule haben. 180 Elternpaare setzen sich für die Schwestern ein, darunter auch evangelische Gläubige. Bürgermeister Jost schimpft Kern einen ,,Schleicher".
Pfarrer Matthias Kern



Hier wohnt ein Volksfeind

Die Primizfeier des Wolfratshauser Neupriesters Josef Winklmeier findet 1938 ausschließlich in der (allerdings prächtig geschmückten) Kirche statt: Es gibt auf der Straße keinen Schmuck, keine Girlanden, keine Fahne und keinen Kirchenzug.

Kooperator Schuster gerät immer mehr in die Schusslinie der Nazis: Das ehemalige Benefiziatenhaus im Untermarkt, in dem er mit seiner Schwester lebt, wird mit Parteiplakaten beklebt. Als die beiden diese wegreißen, werden sie für kurze Zeit ins nahe Gefängnis gesperrt. An ihrem Haus prangt nun ein neues Plakat: ,,Hier wohnt ein Volksfeind". Als Gegenleistung für die Freilassung muss Schuster versprechen, Wolfratshausen zu verlassen.

Auch Pfarrer Kern bekommt den steigenden Druck zu spüren. Er hat Unterrichtsverbot. Im Juli 1939 kümmert sich sogar Goebbels Reichspressekammer um den Fall Kern: Dem streitbaren Prediger wird verboten, die wöchentliche Gottesdienstordnung zu verteilen. Dagegen widersetzt sich der Priester: Er vervielfältigt die Kirchenzettel selber und bringt sie den Kirchgängern persönlich nach Hause.

Mit Beginn des Krieges wird die Situation noch schlimmer: Prozessionen können nur noch am frühen Morgen stattfinden, die Fronleichnamsfeier ist untersagt, sie wird am Sonntag darauf in Gelting gefeiert. Die Glocken dürfen nicht mehr geläutet werden, später werden sie beschlagnahmt und des Metalls wegen eingeschmolzen.

Im Frühsommer 1940 wird den Armen Schulschwestern auch der Kindergarten entzogen, am 10. Juni eröffnet die Partei einen neuen, geführt von drei NSV-Schwestern (NS-Volkswohlfahrt) und einer Köchin.

Nun greift der Staat auch nach dem Schrifttum der Kirchen. Die Kirchenblätter werden verboten, Literatur beschlagnahmt, die Pfarrbücherei überwacht: Was an Büchern erlaubt ist, bestimmt die politische Partei.

Pfarrer Kern legt sich am Weißen Sonntag erneut mit der NSDAP an: Als der Wolfratshauser Theologiestudent Georg Fuchs in Freising zum Priester geweiht wird, lässt er die Glocken läuten. Zur Primiz von Fuchs ist die Wolfratshauser Kirche bis zum letzten Platz gefüllt.

 


Schulkreuze sollen weg

Was folgt, ist ein offener Kampf: Der Münchner Gauleiter Wagner bestimmt am 23. April 1941, dass alle Schulkreuze entfernt werden müssen. Mit dem folgenden Entrüstungssturm vor allem der Mütter hatte die Partei allerdings nicht gerechnet.

Tatsächlich nimmt Wagner seine Verfügung am 28. August wieder zurück. Ein SS-Angehöriger, der sich im Urlaub in Wolfratshausen trotz Verbots kirchlich trauen läßt, erhält eine schwere Rüge. Er wird als ,,Volksschädling"  gebrandmarkt.

Auch in Wolfratshausen fordert nun der Krieg immer mehr Opfer. Pfarrer Kern ist tröstender Anlaufpunkt für die trauernden Angehörigen. Zu seinem 40jährigen Priesterjubiläum und zum 20jährigen Pfarrjubiläum findet am 28. Juni 1942 ein großer Festgottesdienst statt. Die Beteiligung ist überwältigend - obwohl ,,Zeit, Leid, Klage, Krieg und Kriegsopfer, Druck und Verbot jede Zustimmung und Freude drücken", wie Kern den Gläubigen sagt.

Seine politischen Äußerungen bringen ihm die Gestapo ins Haus, .Einmal wird Kern ins Wittelsbacher Palais nach München vorgeladen. Inspektor Pfeifer brüllt den Priester an: ,,Wir haben immer mit dem Pfarrer Kern zu tun. Wir wollen Ruhe von Ihnen haben. Wir haben unsere Zeit für bessere Dinge. Sie verzichten auf die Pfarrei Wolfratshausen, oder ich werde Schutzhaft über Sie verhängen." Kern wählt die Haft.

Der Protest aus Wolfratshausen, wo ohne jede Rücksicht auf das eigene Wohl auch von Parteimitgliedern das Vorgehen der Gestapo verurteilt wird, verhallt indes ungehört. Kardinal Faulhaber indes sieht keine Chance mehr,
Kern zu halten. Er entlässt den Wolfratshauser Pfarrer aus seinem Amt. Kern wird daraufhin von den Nazis wieder freigelassen.




Missbrauch der Gottesdienstordnung?

Die braunen Machthaber gehen nicht nur gegen Pfarrer Kern vor. Sie versuchen die Position der Kirche auch durch andere Maßnahmen zu schwächen - auf lächerliche Art bisweilen: 1935 fordert die örtliche Hitler-Jugend, die Hakenkreuzfahne ganz oben in der Kuppel der Kirche zu hissen.

Erst als der zuständige Kommissär der politischen Polizei erkennt, welche schwierige Kletterei damit verbunden ist, wird der Plan fallen gelassen. Aber die Kirchweihfahne, so die offizielle Anordnung der Partei, darf nicht höher hängen als die Hakenkreuzflagge.

Noch kurioser: Ab Mai 1935 dürfen Maibäume nicht mehr weiß-blau angestrichen werden, nazi-braun ist die Farbe der Farben.

Von April 1935 an veröffentlicht das gleichgeschaltete "Wolfratshauser Tagblatt" auch keine Kirchenanzeiger mehr.
Angeblich, so die vorgeschobene Begründung, sind von der Pfarrei die notwendigen Angaben nicht regelmäßig weitergegeben worden.

Das "Tagblatt" an seine Leser: "Wir haben seit Jahren, trotz immer wiederkehrenden Missbrauchs der Gottesdienstordnung zu politischen Zwecken, (...) unter außerordentlich großen Geld- und Raumaufwendungen der Seelsorge durch den Abdruck der Gottesdienstordnungen zu dienen versucht. (...)

Wenn jedoch von übergeordneter Stelle durch willkürlichen Entzug (...) eine Überwachung der Parteipresse in der Ausübung ihres Amts, in dem jeder Schriftleiter allein seinem Gewissen und dem Reichspropagandaminister verantwortlich ist, versucht werden soll, erscheint es uns notwendig, solche Zumutungen durch Einstellung einer kostspieligen und nicht bedankten Hilfe zu beantworten." Alles klar?

Hinweis: Pfarrer Matthias Kern wirkte von 1922 bis 1942 in Wolfratshausen. Über die (politischen) Veränderungen legte er in seinen Tagebüchern Zeugnis ab. 2003 veröffentlichte sie die Wolfratshauser Stadtarchivarin Marianne Balder als Band 1 ihrer Schriftenreihe. Allerdings ist das Buch inzwischen vergriffen.

1942 ließen die Nazis die Kirchenglocken einschmelzen.





Geschlagene Gesellen



Schutzhaft für einen ledigen Schreiner

Der 28jährige Adolf Reiser ist auf dem Weg von der Arbeit zu seiner Wohnung in Weidach. Als der ledige Schreiner den Bahnhof Wolfratshausen verlässt, greift die politische Polizei zu. Es ist der 1. April 1935; Reiser wird verhaftet und zum Gefängnis am Untermarkt abgeführt. Vom Fenster der Bahnhofs-Wirtschaft aus beobachten Ortsgruppenleiter Kaspar Obermeier und einige herbei bestellte Parteigenossen das Schauspiel.

Der in "Schutzhaft" genommene Reiser ist Vorstand des katholischen Gesellenvereins Wolfratshausen (heute Kolpingsfamilie) - einem der Hauptgegner des Nazi-Regimes vor Ort. Nur einen Tag nach Reisers Verhaftung wird denn auch "zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Ordnung und Sicherheit" (Landrat Adolf v. Liederscron) dem Verein auf drei Monate jede Tätigkeit verboten. Diese beide Maßnahmen sind der Höhepunkt eines ungleichen Kampfes zwischen der NSDAP und dem katholischen Verein.

Bereits am 20. März 1933 verweigert die Vorstandschaft einstimmig, an einem Fackelzug der NSDAP teilzunehmen. Reiser in der Rückschau: "Wir wollten bleiben, was wir waren." Auch einer Jubelfeier zu Ehren von Hitlers Geburtstag (20. April 1933) bleiben die Gesellen fern.

Beim Deutschen Gesellentag in München, Anfang Juni, machen die Wolfratshauser Kolping-Anhänger erstmals Erfahrungen mit der Schlagkraft der neuen Machthaber. SA-Horden verprügeln auf offener Straße die Versammlungsteilnehmer.

Reiser: "Wir Wolfratshauser zogen uns in die Pschorrbräu-Bierhallen zurück und wurden dort vor den Anpöbelungen der SA in Schutz genommen. Dann aber kam SS, und einige von uns mussten die ersten Schläge roher Gewalt erdulden."

Zu den ersten Auseinandersetzungen kommt es im Herbst 1933: Die politische Polizei gibt bekannt, dass Veranstaltungen, sofern sie nicht rein kirchlich sind, künftig untersagt werden. Im Juni 1934 versucht die örtliche NSDAP dem populären Verein auch dadurch die Basis zu entziehen, dass die Doppelmitgliedschaft in einer katholischen Vereinigung und einer NSDAP-Organisation unzulässig sei.

Wer aber im Dritten Reich etwas werden will, kommt an der Partei nicht vorbei. Trotzdem lassen sich die Gesellen nicht abschrecken - zum Jahresende 1934 verzeichnet die Kolpingsfamilie Wolfratshausen 63 Mitglieder; 1931 waren es erst 55 gewesen.

Eine Demonstration der Macht: Nazi-Aufmarsch in Wolfratshausen




"Nur noch blaue Augen, ergo arisch"

Im Jahr 1935 wird das Versammlungsverbot zwar lockerer gehandhabt, allerdings hat eine vierteilige Vortragsreihe, zu der in die Kirche eingeladen wird, die erneute Verhaftung von Vorstand Reiser zur Folge. Nach vier Tagen wird er dank des Einschreitens des Münchner Generalvikars wieder freigelassen.

Aber der Verein kommt nicht mehr zur Ruhe: Bei der Hauptversammlung am 5. August 1935 stürmen uniformierte SS-Leute den Saal und beschimpfen und bedrohen die "schwarzen Brüder". Als drei der Vereinsmitglieder nach Hause gehen wollen, werden sie in ein Auto gezerrt, in einen Wald verschleppt und verprügelt. Dabei wird auch das Mitgliederverzeichnis des Vereins gestohlen - für die "schwarze Liste" der NSDAP.

Zehn Tage später, am Himmelfahrts-Tag, eskaliert die Gewalt: Gesellenvereins-Mitglieder, die sich im Meislbräu getroffen haben, werden von SS-Leuten mit Gummiknüppeln blutig geschlagen - während die Orts-Gendarmerie zuschaut.

Der kurz zuvor geweihte Priester Josef Winklmeier rennt hilferufend den Markt hinunter. Da wird auf ihn geschossen.
Winklmeier läuft zur Loisach und springt im schwarzen Anzug hinein. Gastwirt Fagner, der einen der SS-Schläger stellt, wird mit dem Revolver bedroht.

Kolping-Präses Karl Schuster, ein ausgewiesener Gegner der Nationalsozialisten, schreibt am 18. August in einem Brief: "Gesund, nur noch blaue Augen, ergo arisch."

Fortan wirkt der katholischen Gesellenverein nur noch im Verborgenen: Das offizielle Vereinsleben ist durch die Gewaltakte lahmgelegt. Zudem werden immer mehr Mitglieder zum Arbeitsdienst oder zur Wehrmacht eingezogen.

Erst am 3. Dezember 1945 kann der Verein wieder zusammentreten. Vorsitzender Adolf Reiser: "Ich möchte  anknüpfen an unsere letzte Versammlung vor zehn Jahren, wo die Revolver hinten am Tisch lagen und einige unserer Freunde entführt wurden. Aber trotz allem hat ein Häuflein auch hier in Wolfratshausen Kolping die Treue bewahrt,
und dass wir hier wieder zusammen sein dürfen, das ist auch unsere Belohnung für unsere aufrechte Haltung,
die jeden Zwang ablehnte, der Handlungen gegen das Gewissen verlangte."




Prügel von der SS

Ähnlichen Repressalien ausgesetzt wie der Katholische Gesellenverein Wolfratshausen ist seit der Machtübernahme Hitlers 1933 auch der Katholische Arbeiterverein. Auch dessen Tätigkeit wird am 15. August 1935 gewaltsam beendet. Eine Versammlung im "Löwenbräu" wird von der SS  gesprengt, die Vereinsmitglieder beschimpft, bedroht und geschlagen.

In der handschriftlichen Vereinschronik wird danach notiert: "Der katholische Arbeiterverein Wolfratshausen hält nun
keine Veranstaltungen und Zusammenkünfte mehr ab, um nicht Leben und Gesundheit seiner Mitglieder in Gefahr zu bringen.

Bei der ersten Versammlung nach Wiedergründung des Vereins am Fronleichnamstag (20. Juni) 1946 im  Nebenzimmer des "Löwenbräu" freut sich der Chronist, dass "der furchtbare Terror und die ständige Verfolgung unseres Glaubens" endlich vorbei seien. Der Arbeiterverein ist heute noch aktiv, unter dem Namen Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, kurz: KAB.






Kleine Krieger




 Losung

Es stehen 6000 in dunkler Nacht,
als stünden sie um Deutschland Wacht,
sie stehen stumm, sie stehen stille,
es hämmert in ihnen der eiserne Wille:

Wir sind zum Sterben für Deutschland geboren
und nicht zu dienen blöden Toren!
Regiert von des Führers Hand,
umschlungen von der Treue Band.

So schauen wir stolz zum Lichte auf,
auf unsere Feinde mutig drauf!
Nicht sehen wir um uns den Wahn,
wir stehen unter des Führers Bann.

Wir kämpfen und wir wollen sterben
und für ein neues Deutschland werben!
Wir wollen kämpfen für ein Reich,
wo einer ist dem anderen gleich!

Groß-Deutschland schwebt uns vor den Augen,
ewig wollen wir dran glauben.


Ein Pimpf
(veröffentlicht in der Hochlandlager-Zeitung vom 21. August 1934)





Rudolf Hess zu Gast im Lager


Nichts mehr erinnert in der Jugendbildungsstätte Königsdorf an die Vergangenheit. Lediglich der im Volksmund weiter geläufige Begriff "Hochlandlager" deutet auf die Ursprünge der internationalen Begegnungsstätte hin.

1934 wird, wie überall im Deutschen Reich, auch im "Hochland" ein HJ-Lager eingerichtet, erst am Riegsee bei Murnau und in der Jachenau. Dann kauft die NS-Nachwuchsorganisation von der Landeshauptstadt München das Gelände an der Rothmühle, zwischen Königsdorf und Bad Tölz.

Das Areal unweit der Isar ist bestens geeignet für die angestrebte vormilitärische Erziehung der Hitler-Jugend (HJ)
und später auch des Bund Deutscher Mädel (BDM). In Betrieb genommen wird das Hochlandlager am 9. Juli 1934.

"Königsdorf und Umgebung standen im Zeichen der anmarschierenden Hitler-Jugend. Von Tölz und von Beuerberg her kommen sie in drei Heerzügen mit flatternden Fahnen und frohen Liedern heran. Überall war trotz des schlechten Wetters beste Stimmung. Im Lager ist überall schon Hochbetrieb", schreibt das "Wolfratshauser Tagblatt". Jeweils 4000 Jungen aus dem gesamten Reich werden für jedes Mal 20 Tage ausgebildet.

1936 werden ungefähr 8000 Buben im HJ-Lager unterrichtet. Die Jahreslosung lautet "Disziplin und Glaube."
Obergebietsführer Emil Klein ist geradezu euphorisch: "In diesem Jahr wurde der Jahrgang 1926 vollständig in das
deutsche Jungvolk aufgenommen. Der Jahrgang 1927 wird ebenso wie jeder weitere Jahrgang jeweils am Geburtstag
des Führers in die nationalsozialistische Jugend eingereiht."

Drei Jahre später kommen auch die Mädchen. Anfang Juni 1937 ziehen 800 BDM-Führerinnen als erste von insgesamt 3200 Mädchen zur Schulung in das Hochlandlager ein.

Nochmals das "Tagblatt": "Weltanschauliche Ausrichtung und sportliche Ertüchtigung setzt man von einem nationalsozialistischen Jugendlager voraus. Darüber hinaus sollen diese Führerinnen ihren Mädels beispringen, wenn ihnen im Dienst, auf Fahrt oder sonstwie eine Krankheit zustößt, und deshalb werden sie auch in erster Hilfeleistung bei Unfällen ausgebildet."

Die Lager finden jeweils im Sommer statt. Für die Mädchen steht der Sanitätsdienst an erster Stelle. "Fünf Ärztinnen und eine Reihe von Gesundheitsmädel sind zur gesundheitlichen Betreuung eingesetzt.

Obergauführerin Hilde Dziewas-Königbauer: "Die Mädchen lernen sich unterordnen, den Willen der Gemeinschaft dem eigenen voranstellen. Sie leben in dieser Lagergemeinschaft und später in Dienst und Alltag den Sinn des deutschen Frauentums vor, als deutsche Frau und Mutter vollwertig in der Familie zu stehen, aber auch darüber hinaus ins Volk zu treten."

Die weltanschauliche Schulung steht unter dem Gedanken Großdeutschland", berichtet das "Tagblatt" im Juli 1938.
"Zu den beiden wichtigsten Tagen gehören die beiden Besuchstage. Hier werden sich die Eltern selbst vom Lagerbetrieb überzeugen können."

Welch hohen Stellenwert die nationalsozialistische Erziehung für die Partei hat, zeigt schon die Tatsache, dass die bayerischen Lager stets vom Ministerpräsidenten, Gauleiter Adolf Wagner, eröffnet werden. Am 30. Juli 1938 hat das Lager hohen Besuch: Reichsminister Rudolf Heß, der Stellvertreter von Reichsführer Adolf Hitler, besucht das Mädellager.

Erneut das "Tagblatt": "Er sprach sich sehr befriedigt über das Gesehene und Gehörte aus."


Hitler-Platz und Schirach-Straße: Das Hochlandlager bei Königsdorf




Leibesübungen, Schießen und Geländedienst

Jeweils 20 Tage lang halten sich die Hitler-Jungen, die aus ganz Deutschland kommen, im Hochlandlager auf.
Ausbildung und auch Verwaltung des Zeltlagers sind präzise festgelegt.

Geschult werden 10- bis 14-jährige Buben, die Pimpfe, ältere Jugendliche bis zu 18 Jahren und paramilitärische Spezialgruppen wie die Flieger, die Nachrichter, die Feldschere, die Marine-HJ, die Motor-HJ und die Streifendienste.

Für die Jüngsten bedeutet das Lagerleben an der Rothmühle vor allem Spaß. Auf dem Programm stehen  Leibesübungen, also Sport, Spiele, der Geländedienst und eine Ausflugsfahrt. Die über 14-jährigen lernen obendrein noch Schießen und den Luftschutz.

Ordnung steht an allerhöchster Stelle: Gedrillt werden die Kinder schon bei der Aufteilung in Lagermannschaften,
bei der Lagereinrichtung und der Lagerräumung.

Im Lager gibt es ein eigenes Postamt, ein Fundbüro und - bei bis zu 8000 Bewohnern ein Muss - auch eine Materialverwaltung und ein Lebensmitteldepot. Auch die Verwaltung ist durchorganisiert: Der Lager-Oberleitung untergeordnet sind vier Lagerbanne, fünf Lagergefolgschaften, drei Lagerscharen und vier Lagerkameradschaften.

Gemeinsam organisiert werden unter anderem die Erholungsfürsorge, Feste und Feiern, eine weltanschauliche Schulung, ein Sanitäts- und ein Sicherheitsdienst sowie Führungen und Besichtigungen.

Nichts, aber auch gar nichts bei der Erziehung der Jungen zu tüchtigen Zöglingen von Führer Adolf Hitler wird dem Zufall überlassen. Auch die Anreise ist genau festgelegt. Wer mit der Bahn kommt, steigt in Bad Tölz aus und marschiert von dort aus elf Kilometer, oder aber der Isartal-Bahnhof in Beuerberg ist Endstation: Das bedeutet neun Kilometer Fußmarsch.


Alles in Reih und Glied: Das Hochlandlager der Hitlerjugend, anno 1935.



Ausbildung an den Waffen

Kurz vor Beginn des Polen-Feldzugs, der den Zweiten Weltkrieg einläutet, wird1939 im Deutschen Reich die Jugenddienstpflicht eingeführt. Aus dem HJ- und dem BDM-Lager Hochland wird das WE-Lager, das Wehrertüchtigungslager.

Angehörige der Wehrmacht und der Waffen-SS bilden die Jugendlichen militärisch aus. Ein damals 16 Jahre alter Teilnehmer an einem solchen WE-Lager - er kommt aus Wasserburg - berichtet über die Schulung im Sommer 1944:

"Am Tölzer Bahnhof warten schon die künftigen Ausbilder auf uns. Der erste raue Kasernenton, mit allerhand Kraftausdrücken gewürzt, zum Teil mit gemeinsten persönlich beleidigenden Ausdrücken, mischt sich in den vorwinterlichen Wind.

Einer von uns will seinen Koffer zur Erleichterung an einer Schneestange über der Schulter tragen. Kaum hat ein Kapo das gesehen, schlug er ihm seinen Koffer mit einem wüsten Anpfiff vom Tragestangl. Nach zwei Stunden Fußmarsch gelangen wir ins Lager."

Jeder Tag beginnt um 5.30 Uhr mit einer Weckfanfare. Ein Vater beschwert sich beim Lagerleiter über den Drill.
Die Antwort ist harsch: "Nehmen Sie Ihren  Sohn ruhig nach Hause mit, auf Muttersöhnchen legen wir keinen Wert."

Die Jugendlichen tragen blaue Uniformen. Es gibt Unterricht in Waffenkunde, Karte und Kompass, Zielansprache und Geländebeschreibung. Zweimal in der Woche ist politi scher Unterricht im Speisesaal angesagt.

Am Ende der Ausbildung müssen die Buben den "K-Schein" ablegen, eine Prüfung über den Umgang mit den verschiedensten Waffen - von Karabiner und Pistole über Granaten und Minen bis zu Panzerfaust und dem Gewehr-Granat-Gerät.

Der große Aufwand hat natürlich seinen Zweck: Nach den dreiwöchigen Kursen im "HoLaLa" (Hochlandlager) gelten die Kinder und Jugendlichen als kriegstauglich. Von 1943 an werden sie als Luftwaffenhelfer eingesetzt. Bei  Fliegeralarm müssen sie an die Flugabwehrgeschütze.

"Mit der militärischen Ausbildung wird nicht weniger die politische Beeinflussung und Schulung massiv betrieben. Das Verhalten des Lagerleiters ist sehr fanatisch und ebenso antireligiös", schreibt der 16jährige Hitler-Junge.

"Das kameradschaftliche Verhalten der Lehrgangsteilnehmer ist im Allgemeinen gut. Es gelingt der Lagerleitung allerdings einmal, dass sich einzelne zu tätlichen Ausschreitungen gegeneinander aufhetzen lassen. Über seine antikirchliche Einstellung äußert sich der stellvertretende Lagerleiter, ein Zugführer sehr deutlich. (...) Ein anderes Mal sagt er, es sollen Witze erzählt werden, bei denen es über die Pfarrer geht. Aber es meldet sich keiner."

Die ideologische Schulung erfolgt durch Liedersingen und Theaterspiele: Gesungen werden Lieder wie diese: "Fort mit allen, die noch klagen, die mit uns den Weg nicht wagen. Fort mit jedem schwachen Knecht, nur wer stürmt, hat Lebensrecht."

Ausflüge ins Gelände sind ein wichtiger Bestandteil der Schulung: "Bei einem Feldkreuz wird Halt gemacht. Feldwebel Pritzl fragt, was das ist. Es meldet sich keiner. Schließlich sagt dann einer nach längerem Zögern: ,Das ist ein Feldkreuz. Darauf antwortet Pritzl: ,Weißt, was das ist? Ein Kitsch ist das. Da hängt man einen Juden hin."



Mit Koppeln und Riemen verdroschen

Wer sich nicht an die Regeln hält wird bestraft: "Einer der Lehrgangsteilnehmer aus Miesbach schreibt 1944 in einem Brief über die schlechte Behandlung nach Hause: ,Wir wissen nicht, wann der Kurs aus sein wird, in drei oder vier Wochen. Ich weiß es nicht, weil uns die 'braune Bande' immer anlügt."

Der Brief wird bei einer Kontrolle gelesen. Der Miesbacher bekommt einen schweren Tadel vom Lagerführer: "Dann müssen alle antreten. Es wird gefragt, ob das Geschriebene wahr ist. Natürlich wagt keiner, ein Wort zu antworten.

In einer der nachfolgenden Nächte tritt dann die Kameradenjustiz, aufgestachelt durch den Hauptscharführer, in Aktion. Der Straffällige wird 'gewickelt' und dann mit Koppeln und Riemen verdroschen und geschlagen. Durch die massive Züchtigung läuft der Betroffene ein paar Tage ziemlich angeschlagen herum. Er ist eine Zeitlang dienstunfähig."

Bei einem anderen Lagerteilnehmer, der sich ebenfalls abfällig über die Schulung im Hochlandlager äußert, wird die politische Einstellung der Eltern überprüft. Der Lagerführer erwägt sogar, den Jugendlichen bei einer Scharfschieß-Übung durch einen vorgetäuschten Unfall umbringen zu lassen.

Wer sich als Kriegsfreiwilliger meldet, wird bevorzugt behandelt: "In der Marschkolonne schreiten diese vorweg. Umso mehr sind die anderen Schikanen ausgesetzt. Manche lassen sich überreden und unterschreiben mehr oder weniger unter Zwang."

Der psychische Druck ist enorm. Jeder einzelne dieser Buben ist seinem jeweiligen Vorgesetzten bedingungslos ausgesetzt. Zwar besteht ein Beschwerderecht beim Lagerführer. Aber dieses auszunutzen, "hieß, auf sich selber schießen, und die Ausbilder hätte man erst recht gegen sich aufgehetzt.

Natürlich gab es auch Strafübungen und Strafexerzieren - zum Beispiel dann, wenn man schlecht geschossen hat.
Dann wurden wir in den Wald gejagt und mussten manchmal auch durch Drecklöcher robben."



Dokumentation I: Die besorgten Mütter

Im August 1934 erscheinen im Königsdorfer HJ-Lager zwei Ausgaben einer Lagerzeitung. Die Artikel darin geben einiges vom Selbstverständnis der damaligen Zeit wieder. Darum einige Kostproben:

"Es gibt zwei Arten Mütter. Zuerst jene, die ihren Jungen nichts in den Weg legen, die einer harten männlichen Erziehung zugetan sind und ihre Jungen richtig austoben lassen. Die andere Art, der wir Jungen ganz besonders zugetan sind, ist die, die ihren verehrten Sohn als ein überaus zerbrechliches Glasgebilde ansehen, das gar nicht zart genug angefasst werden kann. Schrecklich muss so ein 'Glasperlenleben' sein.(...) Klar und deutlich sehen wir den Unterschied: Hier Junge, da Knabe."



Dokumentation II: Ein Morgen im Hochlandlager

Lagerromantik: "Allmählich verblaßt der leuchtende Vollmond am Himmel, die Sterne verschwinden und die junge Morgensonne kämpft sich mühsam durch die dicken Schwaden der Talnebel. Wie Pilze tauchen die Spitzen der grauen Zelte aus dem Nebelmeer.

Ein schmetterndes Fanfarensignal durchschneidet den erwachenden Morgen und bringt in die einzelnen Zelte Bewegung. Hier schaut ein Kopf verstohlen durch den Zeltschlitz. Dort erscheinen zuerst zwei lange Beine unter den grauen Planen, denen langsam und gewunden dann der übrige Körper folgt.

Überall kommt nun Leben in die Landschaft. Nur mit der Turnhose oder mit einem Trainingsanzug bekleidet beginnen einzelne Gruppen mit der Morgengymnastik. Andere springen mit flatterndem Handtuch zum nahen Bache. Dort machen einige nach Vorschrift von Pfarrer Kneipp einen exakten Stilllauf im frischen Morgentau.

An der Verpflegungsstation ist gerade die warme Morgenration angekommen. Auf großen Handwagen stolpern schwere Zinnkübel ihrem Bestimmungsort zu. In langen Reihen warten bereits junge Pimpfe und Jungens und stürzen sich mit starkem Appetit auf den dampfenden Morgenimbiss. Überall sieht man mampfende, kauende Gesichter lachend ihre rundlichen Bäuchlein streichen, die ein beredtes Zeugnis, von dem von Heimwehbrüdern
verbreiteten Hochlandhunger ablegen.

Ein dreimal langgezogener Pfiff ruft nun auch noch die letzten verdauenden Gestalten aus den Zelten, die Scharen treten an. Stramm und schneidig meldet der Scharführer dem Sportlehrer die Antrittsstärke seiner Abteilung und übergibt sie ihm zur Ausbildung. Mit dem Lied 'Volk und Gewehr' zieht sie ab. Von allen Seiten marschieren singende Abteilungen zum Übungsplatz."



Dokumentation III: Der Sonne entgegen

Propaganda und Leibesertüchtigung: "Aus Anlass des gigantischen Sieges des Deutschen Volkes über Hader und Zwietracht marschierte in der Nacht von Sonntag auf Montag die gesamte Lagerbesatzung des Hochlandlagers in einem Reisemarsch nach Murnau. Es sollte dies Ausdruck des Kampfwillens der HJ sein.

Am 30. Januar 33 war die Nation aufgebrochen, heute marschiert sie weiter in den Morgen des jungen nationalsozialistischen Deutschlands."






Hauptsache Arier:
Wer nicht passt, wird sterilisiert




 Vage Diagnose genügt bereits

Magdalena S., 31 Jahre alt, landwirtschaftliche Arbeiterin aus Hohenschäftlarn ist depressiv. Das heißt, sie gilt als depressiv, denn Amtsarzt Dr. F. aus Starnberg ist sich nicht ganz sicher: "Die Frage, (...) ob manisch-depressives oder
schizophrenes Irrsein vorliegt, muss (...) offengelassen werden".

Doch diese vage Diagnose reicht im Jahr 1934 aus, dass die AOK Wolfratshausen und die staatlichen Mediziner auf Beschluss des Erbgesundheitsgerichts in München das Leben von Magdalena S. zerstören dürfen. Die junge Frau, so das Urteil, soll keine Kinder haben.

Zur Zwangssterilisation wird sie ins Wolfratshauser Krankenhaus eingeliefert. Eine Routinesache für den stellvertretenden Krankenhausarzt Dr. R. Über die Operation am 12. Januar 1935 vermerkt er lapidar: "Bei dem Eingriff wurden die Eileiter durch Keilexcision entfernt. Die Operation verlief regelgerecht. Die Wunde heilte in acht Tagen ohne Nebenwirkungen" - wirklich?



Kein arischer Herrenmensch?

Der Fall S. ist nur einer von vielen ähnlichen im Landkreis Wolfratshausen. Grundlage dieser unmenschlichen Handlungen ist das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. Juli 1933. Es richtet sich gegen all jene, die Hitlers Ideal vom "arischen Herrenmenschen" nicht entsprechen.

Hierzu zählen laut NSDAP neben Hilfsschülern, auch Epileptiker, Schizophrene sowie Menschen, die an erblichen Mißbildungen leiden. Das sind auch - welche Perversität - erbliche Blind- und Taubheit (sogar Nachtblindheit), angeborene Hüftverrenkungen, Kleinwüchsigkeit und schwerer Alkoholismus.

Dr. R. am Wolfratshauser Krankenhaus ist ein Übereifriger. Denn zu jener Zeit, als die Zwangssterilisation von Magdalena S. angeordnet, wird, gehört die Wolfratshauser Klinik (Foto) noch nicht zu jenen, denen die Nationalsozialisten überhaupt die Genehmigung zu solchen Operationen erteilt haben.

Am 27. Februar 1935 schreibt R. deshalb an die Bezirkskrankenhaus-Verwaltung in Starnberg: "Wir bitten,
die Genehmigung nachzusuchen, dass das Bezirkskrankenhaus Wolfratshausen zur Ausführung von Unfruchtbarmachungen im Vollzug des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ermächtigt wird." Zwei Wochen später kommt der erwünschte Bescheid.

Ein dunkles Kapitel in der Geschichte des alten Wolfratshauser Krankenhauses:
In den 30er Jahren wurden hier zahlreiche Zwangssterilisationen durchgeführt.




Eifrige Wolfratshauser Ärzte

Der Drang der Wolfratshauser Ärzte, es ihren eigenen Mitbürgern unmöglich zu machen, eigene Kinder zu bekommen, ist sogar dem Bayerischen Innenministerium unheimlich. In einem vertraulichen Schreiben vom August 1934 wird kritisiert, dass Unfruchtbarmachungen "in einigen Fällen auch ausgeführt (wurden), obwohl sich an den Geschlechtsorganen oder auch an anderen Körperteilen der Betroffenen entzündliche Vorgänge abspielten".

Denn selbst in der Diktatur ist das Thema umstritten. Es gilt höchste Geheimhaltung: "Die an dem Verfahren oder an der Ausführung des chirurgischen Eingriffs beteiligten Personen sind zur Verschwiegenheit verpflichtet."

Wer sich nicht daran hält, dem droht bis zu einem Jahr Gefängnis. Und die örtlichen Polizeistationen werden vom Bezirksamt Wolfratshausen immer wieder aufgefordert, die Stimmung bei den Leuten zu erkunden.



"Geistliche nicht einverstanden"

Am 11. November 1935 teilt der Vorsteher der Gendamerie Ammerland mit: "Im ganzen Dienstbezirk wird die Auswirkung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses nur begrüßt, insbesondere in solchen Gemeinden, die wegen solchen erbkranken Nachwuchses hohe Lasten zu tragen haben."

Von Gegnern des Gesetzes weiß der Polizist nichts, "weil die gute Auswirkung jedem denkenden Menschen klar geworden ist". Lediglich "die einzelnen Geistlichen sind mit dem Gesetz nicht einverstanden".

Aber die Ortspolizei soll auch denunzieren. Sie muss Listen über "auffällige Personen", die zwangssterilisiert werden sollen, anfertigen. Am 8. März 1936 besiegelt der Hauptstationsleiter R. aus Wolfratshausen
das Leben von elf Menschen: Zum Beispiel, das des verheirateten Hilfsarbeiters Johann M. aus Farchet. Er sei "Gewohnheitssäufer und Raufbold". Ans Messer geliefert wird auch Karl D., der "geistig sehr minderwertig und Analphabet ist".

Auch vor Parteimitgliedern wird nicht Halt gemacht: Die Gendamerie Deining meldet Anfang April 1936, dass der Bauer Anton L., Zweiter Bürgermeister von Ergertshausen, "einen Sohn namens Karl (hat), der durch einen Wasserkopf körperlich sehr verunstaltet ist, und auch etwas geistesschwach sein soll."

Karl D. wird zur Zwangssterilisation ins Krankenhaus Wolfratshausen eingeliefert. Ein Widerspruch gegen die Urteile
des Erbgesundheitsgerichts ist nicht möglich.



Widerstand ist sinnlos

Um Opfer für Sterilisationen zu finden, ist den Nationalsozialisten im Bezirk Wolfratshausen jedes Mittel recht. Über die 40jährige Bäuerin Katharina H. wird von der Orts-Polizei Königsdorf am 24. Juni 1935 an das Bezirksamt gemeldet, dass sie während des 1. Weltkriegs für kurze Zeit in einer Nervenheilanstalt war. Dort wurde sie aber als geheilt wieder entlassen.

Dem Bezirksamt genügt dieser Hinweis. Es fordert weitere Akten über Katharina H. an - sie ist bereits Mutter von zwei gesunden Kindern - und schickt sie am 9. Januar 1935 an das Erbgesundheitsgericht. Dort wird ein schnelles Urteil gefällt. Für den 27. Februar 1935 wird die Unfruchtbarmachung der Bäuerin angeordnet. Sie wird aufgefordert, sich "binnen 14 Tagen" in der Universitäts-Frauenklinik München oder im Krankenhaus München-Schwabing zu melden.

Katharina H. weigert sich. Der Termin verstreicht. Am 27. Juni 1935 fragt das Bezirksamt Wolfratshausen an,
"wann Ihre Unfruchtbarmachung vorgenommen wurde." Katharina H. antwortet nicht. Drei Wochen vergehen. Sie erhält eine erneute Vorladung, sich zur Zwangssterilisation zu melden. Ende Juli schreibt sie an das Bezirksamt, dass ihr Glaube eine solche Operation nicht zulasse. Nun droht die Behörde der Frau, dass sie "unter Polizeizwang" eingewiesen werde.

Katharina H. gibt auf: Am 1. Oktober wird sie in München operiert. 16 Tage später darf sie wieder nach Hause. Da die Familie arm ist - unter anderem lebt noch der 82jährige Vater mit im Haus - bittet Ehemann Johann das Bezirksamt Wolfratshausen um Rückerstattung der Kosten für die Bahnfahrt. Es folgt ein längerer Briefwechsel, bis H. schließlich endgültig mitgeteilt wird, dass die Familie die Kosten für die Zwangssterilisation selbst zu übernehmen hat.



Ganze Familien betroffen

Hitlers Programm zur "Auslöschung unwerten Lebens" trifft anderswo ganze Familien. In Moosham werden zur Jahreswende 1937/38 die vier Kinder des Bauern M. zwangssterilisiert. Maria (geboren 1902), Johann (1905), Therese (1909) und Georg (1914) hatten sogar noch ein Gnadengesuch an Hitlers Stellvertreter Rudolf Hess geschrieben - vergeblich.

Zwangssterilisiert werden Frauen und Männer auch auf bloße Verleumdungen hin. In Deining ist davon unter anderem die 1915 geborene Anastasia H. betroffen. Der Orts-Gendarm will "auf vertraulichem Wege" herausgefunden haben, dass "die H. in sittlicher Beziehung nicht recht gut (ist). Sie soll dauernd zwei Burschen nebeneinander haben und mit diesen geschlechtlich verkehren. (...) Dass nun die H. geistesbeschränkt sein kann, geht daraus hervor, dass bereits eine Tante von ihr (die Bauerstochter Rosina H.) in einer Irrenanstalt untergebracht ist".

Das Schicksal von Anastasia H. ist mit diesem Schreiben besiegelt.

Mitarbeit: Andreas Salch






Süßmost fürs Reich



 Die Erfindung des Fruchtsafts

Bettelarm ist Wolfratshausen, als die Nazis 1933 an die Macht kommen. Flößerei und Holzhandel sind infolge des wirtschaftlichen Niedergangs Deutschlands völlig am Boden. Auch in der Landwirtschaft wird Not gelitten: Bauernhöfe werden zwangsversteigert. Arbeitslosigkeit grassiert. Viele Häuser werden nachts angezündet - von den Handwerkern, die sie danach wieder aufbauen: "Da gibt's wenigstens wieder Arbeit für uns."

Auch die Isartalbahn, die vor dem Ersten Weltkrieg und auch noch danach an schönen Wochenenden Tausende von Sommerfrischlern nach Wolfratshausen bringt, verliert in der Depression an Bedeutung: Die Münchner können sich die Billets nicht mehr leisten.

Einer der wenigen florierenden Betriebe Wolfratshausen ist die "Wolfra", gegründet im August 1930 als  Genossenschaft von Andreas Stumpf, dem Bezirks-Gartenbaufachberater. Stumpf hatte Jahre vorher
ein neues Verfahren entwickelt, mit dem aus Obst durch Erhitzung Fruchtsaft hergestellt wird. Eine Revolution in der damaligen Zeit, denn bis dahin war Obst lediglich vergärt und zu Wein verarbeitet worden.

Andreas Stumpf, gebürtiger Franke und seit 1911 in Wolfratshausen, muss hart kämpfen gegen die Alkohol-Lobby. Mit geringem Eigenkapital, das fast ausschließlich von den Bauern der Umgebung aufgebracht wird, baut er die "Wolfra" auf, wie der "Bezirks-Obstbau-Verband für gärungslose Früchteverwertung" ab 1933 heißt.

Von der NSDAP kommt keine Unterstützung für das Unternehmen, das Mitte der 30er Jahre schon an die 80 Mitarbeiter zählt. Das hat seinen Grund.

Wolfra-Gründer Andreas Stumpf




Als Gegner der Partei bekannt

"Mit dem Vorgehen der Partei sind viele Leute nicht einverstanden. Ich bin selbst ein Gegner und als solcher bekannt.
Unsere Genossenschaft hat 30 Mitglieder, darunter ist nicht ein einziges Parteimitglied (dabei aber mehrere Priester).
Die 'Wolfra' steht deshalb auf der schwarzen Liste", schreibt Stumpf.

Die Partei will den Betrieb, der seine Fruchtsäfte in ganz Bayern verkauft, daraufhin kassieren. "Der Kreisleiter kam zu mir und teilte mit, dass er die kommissarische Leitung selbst übernimmt. Er hatte früher eine Schuhfabrik und damit bankrott gemacht. Anschließend errichtete er eine Obstbrennerei. Diese war ebenfalls nicht lebensfähig. Er wollte sich nun durch uns neben seiner Stellung als Kreisleiter eine neue Existenz schaffen."

Was tun? Andreas Stumpf kann nicht einfach ablehnen, das hätte schlimme Folgen für ihn und seine Familie gehabt. Also greift er zu einer List.

Er teilt Kreisleiter v. Transehe mit, daß er sich wieder um seine alte Arbeit als Gartenbauberater kümmern wolle und der Partei die "Wolfra" überlasse: "Darauf erwiderte der Kreisleiter, daß dies nicht gehe und ich auch unter seiner Leitung weiterarbeiten müsse. Das lehnte ich entschieden ab."



Kreisleiter ist bestechlich

v. Transehe lässt indes nicht locker - aber er ist bestechlich. Stumpf schlägt einen Handel vor: "Um den Kreisleiter zu befriedigen, sagte ich, dass bei uns sehr viel Brennobst anfällt, er solle dies in Zukunft in seiner Brennerei verarbeiten, dadurch bekomme er eine lohnende Beschäftigung."

Der Parteifunktionär ist einverstanden. Stumpf: "Ich bestellte einen Waggon Brennzwetschgen, diese habe ich ihm überlassen - ohne Bezahlung. Von da an hatten wir vor ihm Ruhe."

Der Druck auf das florierende Unternehmen wird immer größer. Die "Wolfra"-Führung beschließt, leitende Mitarbeiter in die Partei aufnehmen zu lassen. Ein Vorstandsmitglied, der Oberlehrer Thiele, willigt ein - vorausgesetzt, die Firma zahlt den Mitgliedsbeitrag.

Auch Andreas Stumpf beschließt, "der Form halber" beizutreten. Bürgermeister Jost indes weigert sich: "Zu meiner Überraschung sagte der Ortsgruppenleiter, er wisse, dass ich kein Anhänger der Partei bin, er könne mich deshalb nicht aufnehmen."

Weitere Probleme mit der Partei gibt es indes nicht. Die "Wolfra", die Zweigniederlassungen überall in Europa eröffnet hat, ist als Betrieb viel zu wichtig geworden. Das Unternehmen platzt deshalb Ende der 30er Jahre aus allen Nähten.

Nach dem Humplbräu-Keller, in dem noch 50 Jahre vorher die Brauerei untergebracht war, wird auch der ehemalige Haderbräu-Keller aus- und umgebaut. Der Versuch, 1936 die Weidach-Mühle vom neuen Besitzer Eichele zu kaufen und einen eigenen Gleis-Anschluss zu bauen, scheitert indes.

Die "Wolfra" aber braucht mehr Platz für die Produktion: Waren 1931 noch 26000 Liter Süßmost produziert worden,
so sind es 1937 bereits 1,2 Millionen Liter und 1939 1,9 Millionen Liter. 1941 zieht das Unternehmen deshalb nach München um, in eine aufgelassene Munitionsfabrik an der Baierbrunner Straße.

An Wolfratshausen erinnert heute nur noch der Name.






Zug in den Tod




 Wegen Zustroms von Juden

Keine Gegenstimme rührt sich im Rat der Marktgemeinde Wolfratshausen. Die Resolution, die die sieben "Volksvertreter" am 10. August 1933, ein halbes Jahr nach der Machtübergreifung der Nazis, beschließen,
ist eindeutig:

"Da die Ansässigmachung und Aufenthaltsnahme von Juden im Markte Wolfratshausen immer mehr zunimmt, sei bei der Regierung vorstellig zu werden, wie dem Zustrom von Juden nach Wolfratshausen abgeholfen werden könnte."
Judenhetze auch im beschaulichen Wolfratshausen!

Jahrzehntelang waren die jüdischen Mitbürger im Markt hoch angesehen. Ungefähr ab Mitte der 20er Jahre ändert sich in Wolfratshausen das Klima, also lange vor der Machtergreifung - der Antisemitismus findet immer mehr Anhänger. Wie viele Juden zu der Zeit in Wolfratshausen leben, geht aus den vorhandenen Archivunterlagen nicht hervor - bekannt sind lediglich vier Familien, die in Wolfratshausen auch Grundbesitz haben.

Bekannt ist auch das jüdische Mädchenpensionat in der ehemaligen Kronmühle, das in der von den Nazis so genannten "Reichskristallnacht" (9. November 1938, heute als "Reichsprogromnacht" bezeichnet), als im gesamten Deutschen Reich die Synagogen brennen, von SS und SA gewaltsam geräumt wird.

Der antijüdischen Propaganda der Nazis ist die Kleinstadt von jeher ein Dorn im Auge. Der 1927 nach Wolfratshausen strafversetzte Starnberger Vermessungsbeamte Franz Buchner erinnert sich in "Kamerad! Halt aus!" anno 1938:

"Kohlrabenschwarze Finsternis brütete über dem Ort. Das Kreisstädtchen beherbergte neben einer Judenschule
auch eine Auslese von Angehörigen des erwählten Volkes in seinen Mauern. Ausnahmsweise einmal ganz unvoreingenommen: Der Stürmerzeichner 'Fips' übertrieb wirklich nicht mit seinen Zerrbildern. Moses Freimark, Nathan Spatz, Karl Kraus waren Prachtexemplare ihrer Rasse. Gab manche lustige Judenhatz. Der Viehjude Spatz
ging nicht mehr ohne seine Fleischerdogge aus dem Stall."

Am 3. April 1940 verlassen die letzten jüdischen Mitbürger, Flora Spatz und deren damals 17jährige Tochter Herta Wolfratshausen. Sie tun dies nicht freiwillig, und sie überleben dies wohl auch nicht lange. Die letzte bekannte Adresse lautet Beethovenstraße 8 in München, danach verliert sich ihre Spur.

Floras Schwägerin Cäcilia Spatz und deren Sohn Willi besteigen in München einen Zug, der sie nach Riga bringen soll.
Der Zug kommt nie dort an - es ist ein Zug in den Tod. Mutter und Sohn müssen sich in der Knorrstraße einfinden,
dürfen ihre Koffer mitnehmen, aber der Gepäckwagen wird, Augenzeugen zufolge, noch auf dem Bahnhof in München abgehängt.

Eine Verwandte erinnert sich Jahrzehnte später vor allem an die Cilly genannte Cäcilia Spatz, die seit 1934 verwitwet ist: "Eine schneidige Frau. Und sie dachte, sie würde in Riga wieder neue Freunde finden."




Telefon Nummer 3: Spatz

Dem Viehhändler Nathan Spatz und Ehefrau Mina, geborene Kirschbaum, wird 1908 vom Magistrat der Marktgemeinde Wolfratshausen das Heimatrecht verliehen. Das Ehepaar hat drei Söhne: Wilhelm (geboren 1893), Arthur (1894) und Hermann (1896, Foto). Alle drei wachsen zu ehrbaren Wolfratshauser Bürgern heran.

Gute Freunde: Viehhändler Hermann Spatz (re.) und Johann Fagner, Wirt des "Humplbräu".



Wilhelm, der studiert hat, stirbt früh - den "Heldentod fürs Vaterland" am 2. Februar 1916 als Vize-Feldwebel im Ersten Weltkrieg. Bruder Arthur kehrt von dort als hochdekorierter Offizier zurück. 1924 bauen Hermann und Arthur das Haus Nummer 278 1/5, ein prächtiges Bürgerhaus, der frühere Wohlstand ist heute noch erkennbar.

Der Viehhandel Spatz & Co. floriert: Die Firma lädt zu Auktionen in eigene Stallungen beim Humplbräu und
in München in der Rosenheimer Straße. Die Spatz' haben sogar schon Telefon: Sie sind erreichbar unter der Nummer 3 in Wolfratshausen. Die Familie ist beliebt in der Marktgemeinde.

Mitte der 20er Jahre beginnen die Klimaveränderungen, eher schleichend, aber spürbar. Nach der Machtübernahme 1933 werden sie unübersehbar. Die jüdische Familie Spatz ist nun nicht länger willkommen in ihrer Heimatgemeinde. Die Orts-NSDAP schaltet in der Zeitung "Stürmer" einen Aufruf: "Keiner soll beim Juden Spatz einkaufen."

Andreas Stumpf, Chef der Wolfra-Süßmostherstellung in Wolfratshausen, schreibt: "Bekanntlich können sich ja die wenigsten Leute selbst ein Urteil bilden, die meisten glauben deshalb, was der Stürmer schrieb." Und: "Die Juden sind vollkommen schutzlos dieser furchtbaren Hetze ausgesetzt."

Verdienter Patriot: Arthur Spatz kehrte aus dem Ersten Weltkrieg als Sergeant zurück.




Marmelade für das Mobiliar

Arthur Spatz hat Glück, er erlebt die Vernichtung seiner Familie nicht mehr: Er stirbt 1934 an einer Embolie. Hermann, Ehefrau Cäcilia, Sohn Wilhelm und Arthurs Witwe Flora mit Tochter Herta werden im Ort geschnitten,
sie erhalten weniger Lebensmittel, sie müssen höhere Steuern zahlen. 1938 ahnen sie schon, daß sie ihre Heimat bald verlassen müssen.

Cäcilia Spatz geht zu Andreas Stumpf: "Sie sagt, dass sie nun auch flüchten müsse, vorher würde sie gern ihre Wohnungseinrichtung verwerten. Wir gehen hin und sehen uns die Einrichtung an, sie war tatsächlich erstklassig. Herr und Frau Spatz ersuchen uns, ihnen für die Einrichtung verschiedene Lebensmittel zu liefern. Wir versprechen, für 1800 Mark Fruchtsäfte, Marmelade und anderes zu geben."

Am 12. November 1938 schreibt das Tagblatt: "Wolfratshausen wurde judenfrei!" Bei einer "spontanen Aktion" seien in der Nacht zum 10. November "sämtliche ortsansässigen Juden" ausgewiesen worden.

Der Partei mag dies gefallen haben, aber die Meldung ist falsch: Zwar ist die jüdische Mädchenschule  tatsächlich geschlossen, aber noch eineinhalb Jahre leben mehrere Mitglieder der Familie Spatz in Wolfratshausen. Aber nicht mehr in ihrem eigenen Haus. Das verkaufen sie auf Druck der Regierung von Oberbayern am 30. Januar 1939 für 40.000 Mark an Lorenz V., den Kantinenwirt der Munitionsfabrik im Wolfratshauser Forst. Das Geld geht auf ein Sperrkonto.

Über V. heißt es in einem Schreiben vom Oktober 1946: "Er soll ein Parteigenosse übelster Sorte gewesen sein,
der seine politischen Beziehungen auszunützen verstand, um sich Vorteile und Vermögen zu verschaffen."

Hofraum und Ställe werden von der Munitionsfabrik im Forst als Lagerplatz gepachtet, und auch der weitere Grundbesitz wird für einen Spottpreis arisiert. Die neuen Eigentümer sind reich geworden: Ein Großteil der mehr als sechs Hektar Wiesen und Weiden zwischen Farchet und Weidach sind mittlerweile Bauland.

Der weitere Leidensweg der Familie Spatz lässt sich aus den Akten rekonstruieren: Hermann kommt ins KZ Dachau und wird aus nicht bekannten Gründen wieder freigelassen. Mit Ehefrau Cäcilia und Sohn Willy zieht er am 23. Januar 1940 nach München in die Pettenkoferstraße 27a. Am 30. Mai 1940 stirbt Hermann Spatz, tags darauf wird er auf dem Israelitischen Friedhof  begraben.

Die Todesursache ist nicht dokumentiert, auch auf dem Grabstein steht lediglich "Zum Gedenken an Hermann Spatz, Tod 1940". Wie eine Verwandte nach dem Krieg berichtet, ist Hermann Spatz zu Tode gespritzt worden.

Cäcilia, die ihren gelben Judenstern immer mit der Handtasche abdeckt, und Sohn Willy werden nach Riga deportiert und umgebracht.

Der Vater von Cäcilia Spatz, Ludwig Holzer, und eine Tante von ihr, Mina Einstein, werden 1942 ins  Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt und sterben dort. Ein Onkel, Benno Neuburger, wird am 17. Dezember 1942 vom Volksgericht Berlin wegen "Beleidigung des Führers"  zum Tode verurteilt und  hingerichtet.

Arthurs Witwe Flora und deren Tochter Herta ziehen im April 1940 nach München in die Beethovenstraße 8. Ihr weiteres Schicksal ist ungeklärt.

Auch der Vater von Hermann und Arthur, Nathan Spatz, der bereits 1938 nach Frankfurt verzog, wird deportiert
(seine Ehefrau Mina starb schon 1931 eines natürlichen Todes).

Eine der wenigen Überlebenden der Familie ist eine in München lebende Schwester: Deren Sohn und dessen Frau verbringen ihren Lebensabend im Spatz-Anwesen in Wolfratshausen.




Flucht ins Hotel: Familie Kraus

Neben den Spatz' werden noch andere Wolfratshauser Familien Opfer der antijüdischen Hetze der NSDAP:

Julius Freimark, ein Verwandter der Spatz' und wie sie erfolgreicher Viehhändler mit eigenem Telefonanschluss (Nummer 99), verlässt sein Haus Obermarkt 16 schon im August 1933 und zieht nach München. Sein weiteres Schicksal ist unbekannt.

Auch Karl Kraus ist Viehhändler. Auch er bekommt den Antisemitismus in Wolfratshausen mit voller Wucht zu spüren. "Wolfra"-Chef Andreas Stumpf erinnert sich an eine Begegnung 1938: "Durch Zufall treffe ich einmal den Juden Kraus vor dem Rathaus. Als ich mit ihm spreche, sagt er: 'Reden Sie nicht mit mir; wenn es da drüben von der Gemeindekanzlei jemand sieht, bekommen Sie Unannehmlichkeiten.' Ich erwidere: 'Ich lasse mir nicht vorschreiben, mit wem ich rede.'"

Kurze Zeit später besucht Kraus den Unternehmer, schreibt Stumpf: "Er hat uns mitgeteilt, dass er und seine Frau wegen der Verfolgungen auswandern müssen. Er fragt, ob ich ihm nicht etwas abkaufen könne, damit sie die Kosten der Auswanderung bestreiten können. Emma (Stumpfs Ehefrau, d. Autor) und ich besuchen ihn und seine Frau. Beide haben geweint wie kleine Kinder, wir kaufen einiges Nymphenburger Porzellan von ihnen."

Die Eheleute Kraus müssen ihr Wohnhaus mit Stall und ihre Remise mit Garten Ende 1938 unter Wert verkaufen.
Am 10. Januar 1939 meldet die Orts-NSDAP, dass die Kraus' in München im Hotel Isabella leben. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt.




"Vorübergehend beschlagnahmt"


Die Jüdin Ida Knoblauch muss ihr Haus in Wolfratshausen nach der Reichsprogromnacht am 9. November 1938 verlassen. Die Wolfratshauserin  mit polnischem Pass zieht nach München in die Thierschstraße um.

Am 13. Januar 1939 schreibt ihr der Markt Wolfratshausen, dass das Haus an der Münsinger Straße, da es "zur Zeit nicht benutzt" ist, "aufgrund polizeilicher Befugnisse vorübergehend beschlagnahmt" sei. Zwei wegen eines abgebrochenen Hauses obdachlos gewordene Familien seien in die Zwei- und in die Drei-Zimmer-Wohnung einquartiert worden.

Ida Knoblauch lässt sich das nicht bieten. Sie schreibt zurück, dass sie befürchtet, "dass aus der vorübergehenden Beschlagnahme ein Dauerzustand" werde. Dies sei "eine unbillige Härte".

Die streitbare Dame schaltet auch das polnische Generalkonsulat ein: Ein Teil ihrer Möbel sei auf die Veranda herausgestellt worden. "Es dürfte zum Beispiel für das Klavier absolut unzuträglich sein, im Winter auf einer zugigen, ungeheizten Veranda zu stehen." Zudem könne es nicht angehen, daß der von den ungebetenen Mietern verbrauchte Strom zu ihren Lasten gehe.

Die Antwort des NS-Bürgermeisters Jost ist unerwartet höflich gehalten. Er verspricht, innerhalb von acht Tagen ein neues Quartier für die Mieter zu finden. "Nach dem Auszug werden die hinterstellten Möbel wieder an ihren ursprünglichen Platz verbracht werden." Zudem möge Frau Knoblauch noch Auskunft über den Mietwert ihres Hauses geben. Die für das Polnische Generalkonsulat vorgesehene Kopie dieses Schreibens  wird "vorerst nicht abgesandt".

Über das weitere Schicksal von Ida Knoblauch ist nichts bekannt.

Vorbereitung auf Israel: Bis zu 100 junge Frauen wurden bis 1938
in der jüdischen  Mädchenschule in der Kronmühle unterrichtet.




Um 4 Uhr früh kommen SS und SA

er Terror geht um 4 Uhr morgens los. Es ist der 10. November 1938. 50 SS-und SA-Leute stürmen die ehemalige Kronmühle in der Beuerberger Straße. Zwei Stunden bekommt Käthe Künstler Zeit: Bis um 6 Uhr müssen die Schulleiterin, ihre Lehrkräfte und die 60 Schülerinnen der jüdischen Frauenfachschule Wolfratshausen verlassen haben.

Es gibt kein Pardon. Es gibt keine Minute Aufschub. Nur die nötigsten Habseligkeiten dürfen die 14- bis 17jährigen Mädchen mitnehmen, nur soviel, wie in einen Koffer passt. Um 10.10 Uhr verlässt der Zug den Wolfratshauser Bahnhof ... und in München wartet schon die Gestapo.

Vier Jahre lang, von 1934 bis 1938, läßt es sich in Wolfratshausen ganz gut leben für Käthe Künstler und ihre Schützlinge. Die Einheimischen gehen mit den jüdischen Gästen "immer freundlich" um, wie sich Frau Künstler in einem Zeitungsinterview 1991 erinnerte.

Als 30-Jährige gründet die Lehrerin, eine gebürtige Breslauerin, die Schule in Wolfratshausen. Sie will dort in ländlicher Umgebung junge Mädchen auf ihre Rolle in Familie und Gesellschaft vorbereiten. Die Räumlichkeiten in dem einstigen Hotel Reisert (auch bekannt als Kronmühle) sind ideal. Käthe Künstler: "Wir sind stolz darauf, daß Goethe auf einer seiner Reisen nach Italien irgendwann einmal in unserem Bauernhaus Station gemacht haben soll."

Anfangs sind es acht, später bis zu 100 Schülerinnen. Der Lehrplan des Pensionats sieht Fächer wie Gesundheitstheorie, Säuglingspflege, Geflügelzucht, Nahrungsmittel-Chemie, Waschen und Bügeln vor.

Im Deutschunterricht gehört Hitlers "Mein Kampf" zur Pflichtlektüre - man will den Gegner kennen lernen. Aber auch auf die ab 1936 stärker werdende Judenhetze reagiert man. Gelehrt wird die "Ha Chara", ein Schnellkurs für die Flucht ins Ausland. Englisch ist Pflichtfach.

Die Wochenendausflüge ins Oberland entfallen allerdings immer öfter, "weil es Christen ja verboten ist, mit Juden zu sprechen und wir niemanden in Verlegenheit bringen wollen", wie Frau Künstler den Mädchen erklärt.

Die Vorbereitungen zahlen sich aus. Nach der Vertreibung aus Wolfratshausen gelingt einigen Mädchen die Flucht.
Eine Mitarbeiterin des Isar-Loisachboten lernt 1985 in Israel eine ehemalige Internatsschülerin kennen.

Auch Käthe Künstler entkommt: Über Frankreich flieht sie nach Israel. 1955 kehrt sie nach München zurück. 1973 bis1979 ist sie Vorsitzende der "Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit". Nach dem Ende ihrer Amtszeit wird sie zur Ehrenvorsitzenden ernannt. Käthe Künstler stirbt 1999 im Alter von 95 Jahren.






Ab ins Exil



 Über das Gute

Der Sinn für die Schönheit des Guten
kann den Menschen nicht gegeben werden,
er muss in ihnen gewachsen sein.

Aber das Gute wird von selber in ihnen aufquellen,
wenn die Entwicklung sie zwingen wird zu sehen,
dass sie ohne menschliche Gemeinschaft und Brüderlichkeit
heute alle miteinander verloren sind,

und dass das Gute den Menschen so nötig ist
wie das tägliche Brot.

Erich von Kahler
"Was soll werden?" (1952, Princeton/USA)





Ein großer deutscher Gelehrter

Privatgelehrter, als solcher ist Erich von Kahler seit 1914 in Wolfratshausen gemeldet. Die Berufsbezeichnung ist unvollständig. Kahler ist Dichter und Soziologe, Historiker und Kulturkritiker, Philosoph und Literaturwissenschaftler - einer der großen Gelehrten des Deutschlands der Weimarer Zeit, ein Universaltalent, dem eine große Karriere bevorstand.

Wie bei so vielen seiner Freunde und Kollegen bedeutet die Vertreibung aus seiner Heimat einen heftigen Einschnitt:
Heute ist Erich von Kahler fast vergessen. Sein Name findet sich nicht einmal in der Brockhaus-Enzyklopädie.

Zu Unrecht, denn Kahlers Hauptwerke "Israel unter den Völkern" (München, 1933), "Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas" (Zürich, 1937) und "Man the Measure" (New York, 1943) waren zu ihrer Zeit in Intellektuellenkreisen weit verbreitet und heftig diskutiert. "Man the Measure, A New Approach to History" wurde bis 1986 in USA immer wieder aufgelegt.

Was aber hat ein Mann wie Erich von Kahler mit Wolfratshausen zu tun? Der Markt ist fast zwei Jahrzehnte Heimat des introvertierten Denkers. Hier, in der Provinz findet er die Ruhe, die er für seine Studien braucht.
Er bewohnt eine schön gelegene Villa am Bergwald, das vormalige "Bergerhaus", das Kahler "Haus St. Georg" nennt
und in dem er sich mit vielen berühmten Zeitgenossen trifft.

Die heutige Adresse lautet Am Burgholz 2, die Villa steht nur noch zum Teil. Aber erzählen wir Kahlers Geschichte von Anfang an.

Erich von Kahler, geboren in Prag, gestorben in New York,
lebte als Privatgelehrter in Wolfratshausen (Foto von 1925).




Kindheit in Prag, Jugend in Wien

Erich von Kahler wird in eine Gesellschaftsschicht - das jüdisch-europäische, wohlhabende Großbürgertum - hineingeboren, das Hitler mit besonderem Eifer verfolgt und schließlich auch komplett vernichtet. Als Sohn einer kunstbeflissenen, vermögenden Industriellenfamilie wird Kahler 1885 in Prag geboren.

Der Teenager kommt dort mit dem Bar-Kochba-Kreis in Berührung, einer jüdischen Gruppe von Studenten, die im Gegensatz zur Generation ihrer Eltern eine Rückbesinnung auf alte jüdische Werte verfolgen. Die Auseinandersetzung mit seiner Religion prägt den deutschen Juden tschechischer Herkunft, Erich von Kahler, ein Leben lang - ebenso seine verklärte Auseinandersetzung mit dem Deutschsein.

Im Alter von 15 Jahren, anno 1900, siedelt Kahler mit seiner Familie nach Wien um. Der junge Erich mag nach dem "geheimnisvollen Prag" das "oberflächliche Wien" nicht. 1903 legt er am angesehenen Schotten-Gymnasium die Matura ab.

Im selben Jahr veröffentlicht er auch erstmals einen Gedichtband ("Syrinx"). Der Industriellensohn, finanziell völlig unabhängig, studiert Philosophie, Germanistik, Geschichte und Kunstgeschichte. 1914 ist er endlich soweit, Österreich verlassen zu können und in das von ihm so verehrte Deutschland überzusiedeln.




Wolfratshausen und Stefan George

Er wählt Wolfratshausen als Wohnort aus, sicherlich wegen dessen Nähe zu München. Schon drei Jahre vorher hat Kahler den Dichter Stefan George kennengelernt, einen der richtungsweisenden Denker seiner Zeit,
der von den seinen Anhängern, meist selbst bedeutenden Dichtern und Künstlern, als "Meister" verehrt wird.

Auch Kahler gehört dem berühmten "George-Kreis" an, allerdings hält er stets eine gewisse Distanz. Immerhin besucht ihn Stefan George auch einige Male in Wolfratshausen.

Dem "George-Kreis" gehört auch Josefine Sóbotka (1889 bis 1959) an - eine ungewöhnliche Frau. Geboren in Wien studiert sie in Heidelberg zu einer Zeit Medizin, als Frauen unter den Studierenden noch eine bestaunte und angefeindete Ausnahme sind. Sinnbild ihrer Aufgeklärtheit war auch der "Bubikopf", den sie in den 20er Jahren trägt.

1912 heiratet die schöne, kluge Frau den Industriellensohn Erich von Kahler. Die Ehe ist ein Fiasko. Beide passen aufgrund ihrer hochgesteckten, unterschiedlichen Lebensziele nicht zueinander, sie verbringen die eine Hälfte des Jahres mit endlosen Diskussionen und Spaziergängen, die andere getrennt arbeitend oder verreisend.

Erst 1940 im amerikanischen Exil geht der Alptraum zu Ende. Die beiden trennen sich. Der in praktischen Dingen völlig lebensunfähige Kahler wird fortan von seiner Mutter versorgt (sie stirbt 1954). Josefine Sóbotka arbeitet in der Krebsforschung. 1959 stirbt sie an einem Gehirntumor.

1969, als 84jähriger, ein Jahr vor seinem Tod, heiratet Erich von Kahler ein zweites Mal, eine Amerikanerin.




Dichter und Wissenschaftler

"Wir sind alle vier mit einem ausgesprochenen Hang zur Faulheit ausgestattet", so beschreibt Erichs Cousin Victor von Kahler 1911 das Leben der Kahler-Sprösslinge, denen das Familienerbe ein sorgenfreies Leben ermöglicht. Erich von Kahler widmet sich ausschließlich dem Lesen und Schreiben.


1919 veröffentlicht er "Das Geschlecht Habsburg". Das geschichtsphilosophische Werk macht ihn auf einen Schlag bekannt, wie begeisterte Besprechungen von Egon Friedell, Robert Musil und Hugo von Hofmannsthal belegen.

1933 erscheint "Israel unter den Völkern" in einem Münchner Verlag. Die Nazis stampfen die gesamte Auflage umgehend wieder ein. Kahlers Bücher werden verbrannt. Er steht schon seit 1931 auf der "schwarzen Liste" der Vorgängerorganisation der Gestapo, der durch Denunziation Teile von Kahlers zweitem Hauptwerk "Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas" in die Hände gefallen waren.




Gestapo kommt zu spät


Schon deshalb drängt Josefine von Kahler ihren Mann im März 1933 dazu, in Wien das Ergebnis der Reichstagswahlen abzuwarten - zum Glück. Kaum zehn Tage nach der Wahl durchsucht die Gestapo
das Haus St. Georg in Wolfratshausen. Die Geheime Staatspolizei findet dort aber lediglich ein Exemplar
von Hitlers "Mein Kampf", versehen mit ausführlichen Randnotizen.

Dem Ehepaar Kahler bleibt die Rückkehr in sein Haus in Wolfratshausen versperrt. Am 6. September bittet der Flüchtling von Wien aus, die Marktgemeinde in einem Brief darum, dass sein Haus für einen "ortsüblichen Preis" vermietet werde und man ihm das Geld zukommen lasse.

Aber das Haus ist zu diesem Zeitpunkt schon von der Bayerischen Politischen Polizei beschlagnahmt, die die zwei Wohnungen, laut Schreiben des Sonderbeauftragten der Obersten SA-Führung beim Bezirksamt Wolfratshausen, für 12 und 15 Reichsmark an "einwandfreie Personen" vermietet.

Kahler gilt offiziell als "reichsflüchtig", am 18. September 1933 wird sein Vermögen offiziell beschlagnahmt
und am 22. Januar 1934 seine deutsche Staatsbürgerschaft widerrufen.

Das Anwesen Burgholz 2 erwirbt im März 1936 der Notar Dr. V. Nachkriegs-Landrat Willy Thieme bezeichnet V. zehn Jahre später als "Nationalsozialisten, der sich Naziverbrechen zuschulden kommen ließ".

Der letzte Lebenszeichen des Privatgelehrten, das Wolfratshausen erreicht, kommt am 12. April 1934 aus Prag. Kahler bittet um ein "Leumundszeugnis". NS-Bürgermeister Schrott fragt bei der SA nach, ob er eine Antwort schicken soll. Die handschriftlich notierte Antwort: "Zunächst nicht."




Leben im Exil: Zürich und Princeton

Durch das Exil ist, so schreibt Freund Thomas Mann zu Erich Kahlers 60. Geburtstag im November 1945, dessen "Ruhm, der unfehlbar stetiges Wachstum gehabt hätte, wenn Deutschland bei Sinnen geblieben wäre,  zurückgehalten und vertagt".

Mit dem Dichter Thomas Mann verbindet Erich v. Kahler nicht nur die Liebe zum bayerischen Oberland (Mann hatte ein Ferienhaus in Bad Tölz), im Exil entwickelt sich zwischen den beiden eine streitbare Beziehung.


1919 hatte der berühmtere Mann erstmals Notiz von Kahler genommen.
In sein Tagebuch schreibt er: "Ich bin vom persönlichen
und geistigen Wesen des etwa 33jährigen überaus angenehm berührt. Möglichkeit einer Freundschaft?"

Im schweizerischen Exil vermittelt Mann dem Kollegen einen Züricher Verlag zur Veröffentlichung von "Israel unter den Völkern" (1936) und "Der deutsche Charakter in der Geschichte Europas" (1937). Beide treffen sich oft, führen lange Gespräche und schreiben sich Briefe. 1947 schafft Thomas Mann dem Freund ein bleibendes Vermächtnis,
in dem er ihn in der Person des Karl Friedrich Zelter in seinem Roman "Dr. Faustus" verewigt.

Nach Beginn des Krieges, 1939, müssen Mann und Kahler die Schweiz verlassen. Sie wandern nach Princeton/USA aus, zu dieser Zeit ein Zentrum deutscher Exilanten. Kahler wird Professor an der Universität. Zu seinen Freunden und Nachbarn zählen Nobelpreisträger Albert Einstein und Schriftsteller Hermann Broch.

37 Jahre lebt Erich von Kahler im Exil. Nach seiner Ankunft in USA veröffentlicht er nur noch in Englisch - unter anderem sein wichtigstes Werk "Man the Measure". Sein Hauptthema bleibt aber - auch nach Ende der Nazizeit -
die Auseinandersetzung mit Deutschland.





Bomben im Wald



Wochenendhaus gegen Munitionsfabrik

"Wenn es nicht gelingt, die Arbeitslosen beziehungsweise die Pendler nach Wolfratshausen heimzubringen, dann ist hier keine Ruhe und Ordnung zu schaffen." Im Wissen um den desolaten wirtschaftlichen Zustand Wolfratshausens tritt der Automechaniker Heinrich Jost im Frühjahr 1936 sein Amt als Wolfratshauser Bürgermeister an.


Er erarbeitet den "Wirtschaftsplan Jost" und schreibt in der Einleitung, dass in Wolfratshausen und Umland "durchwegs noch sehr große wirtschaftliche Not und soziales Elend, besonders in Arbeiterkreisen, vorherrscht", verursacht durch "ungeheuer schwierige Arbeitsverhältnisse".

"Weitaus der größte Teil der gesamten Arbeiterschaft, gelernt und ungelernt, (...) muss größere Entfernungen zurücklegen, um an seine Arbeitsstelle zu gelangen." Durch die "Einrichtung von Betrieben südlich von Wolfratshausen" würden sich die Bürger, so Josts Hoffnung, "besser als bisher rückhaltlos für den nationalsozialistischen Staat und die Partei einsetzen".

"Es ging mir in erster Linie nicht um politische Belange, sondern um die Bekämpfung der sozialen Not", erinnert sich Jost Mitte der 1960er Jahre in einem Gespräch mit Stadtpfarrer Ulrich Wimmer.

Jost schickt sein Strategiepapier an alle wichtigen Parteistellen, nach München und nach Berlin. Das Engagement des "Parteisoldaten" findet Beachtung: Schon nach kurzer Zeit bekommt Jost Besuch von Dr. Gritzbach, Görings rechter Hand im Wehrwirtschaftsministerium.

"Es war an einem Wochenendabend. Da kam der Wirt vom Humplbräu zu mir: Da sind ein paar Berliner, sagte er. Sie haben gefragt, ob sie heute noch den Bürgermeister sprechen könnten."

Im Verlauf des Gesprächs nimmt Gritzbach den Bürgermeister beiseite: "Wir hätten die Absicht, ein kleines Wochenendhaus in Ebenhausen hinzustellen. Sie sind doch mit dem Baurat Stempel gut bekannt. Vielleicht können Sie ein Wort für uns einlegen."

Im Gegenzug hat auch Jost einen Wunsch frei. Er schildert dem Funktionär die wirtschaftlichen Sorgen seines Markts und bittet um Hilfe. Gritzbach antwortet: "Ich empfehle Ihnen, was Sie eben geschildert haben, über den Notstand bei Ihnen, nach Berlin zu geben."

Jost erinnert sich später: "Mir wurde gesagt, es durfte nicht an eine andere Dienststelle kommen, ich musste jetzt einen Entschluss fassen, ohne Landrat, ohne Kreis- und Gauleiter. Mein Gesuch kam gut an."

Gritzbach kommt Ende des Jahres 1936 wieder. Er besichtigt den Wolfratshauser Forst. "Dieser Besuch hatte Erfolg", so Jost später. "Ich wurde auf strengste Geheimhaltung verpflichtet. Ich hatte mir ja schon immer gewünscht, einen Industriebetrieb hierher zu bekommen. Allerdings ist das Ganze dann unter 'Schokoladenfabrik' gelaufen."

Die Geister, die Jost rief, wird er nicht mehr los: "Das Ganze" wird eine der größten Munitionsfabriken des Dritten Reichs. Dr. Gritzbach indes bekommt sein Wochenendhaus.

Das Werk "Tal I", die DAG, im heutigen Gartenberg.  Aufgenommen wurde
dieses Bild am 9. April 1945  von einem amerikanischen Luftaufklärer.         



Schokolade in Tal I und II

"Schokoladenfabrik", welch wohl klingenden Namen lassen sich die Nazis 1937 für ihr gigantisches Projekt im Wolfratshauser Forst einfallen. Von "Tal I" und "Tal II" spricht das Oberkommando des Heeres. Die offizielle Bezeichnung ist "Fabrik Wolfratshausen der Gesellschaft mit beschränkter Haftung zur Verwertung chemischer Erzeugnisse".

Ausländische Radiosender in Straßburg und Luxemburg verbreiten allerdings schon 1938, daß südlich von München
gigantische Rüstungsfabriken entstehen. Dieses ganze Geklingel mit Decknamen, es ist von Anfang an überflüssig. Oder soll es nur die eigene Bevölkerung darüber im unklaren lassen, was hinter mehr als elf Kilometer Stacheldraht gebaut wird?

Am Protest der Bevölkerung sind die Berliner Rüstungsplaner im Münchner Vorland schließlich bereits einmal gescheitert. Ursprünglich sollten die Munitionsfabriken im Forstenrieder Park gebaut werden - es gibt starken Widerstand der Stadt München. Wolfratshausen ist nun erste Wahl.

Am 1. Dezember 1937 geht das Heereswaffenamt in die Planung. Vorgesehen ist für die Fabriken eine Fläche von 450 Hektar. Ein halbes Jahr später wird der Platzbedarf auf 720 Hektar korrigiert. Absolute Geheimhaltung herrscht auf allen Ebenen: "Die Entstehung der geplanten Betriebe musste unter Umgehung sämtlicher Dienststellen laufen. Der beginnende Aufbau hatte in aller Stille zu geschehen", erinnert sich Jost 25 Jahre später.




Wüchsigste Bestände des ganzen Distrikts

Und doch gibt es Proteste. Der Leiter des Wolfratshauser Forstamts, Müller, schreibt am 5. Oktober 1937 an die Planungsbehörden: "Die aus Laub- und Nadelholz gemischten Bestände dieses Gebiets sind die besten und wüchsigsten des ganzen Distrikts (...) Höchste Kunst der Landesverteidigung müsste es meiner Auffassung nach sein, ihre unabweisbaren Notwendigkeiten in Einklang zu bringen mit den sonstigen Erfordernissen der (...) Forstwirtschaft, deren Erzeugnisse ja sowohl für die Volkswirtschaft wie für die Landesverteidigung bitter notwendig sind."

Auch das Argument des Oberingenieurs Deichmann, der Wolfratshauser Forst sei für die Tarnung der Fabrik bestens geeignet, lässt Müller nicht stehen: "Für Angriffe aus der Luft sind die geraden Linien und Durchhiebe (das sind die Forstwege, d. Autor) außerordentlich günstige Wegweiser." Müller ist freilich Realist: "All diese Einwände werden aber das Unheil wohl kaum vom  Wolfratshauser Forst abwenden können."

Für den Münchner Gauleiter Adolf Wagner, einen Günstling Hitlers, ist klar: "Nicht die Gefühle und die Liebe der Natur bestimmen hier, sondern die kalten Berechnungen auf dem Weg zu einem neuen Krieg."



Enteignung oder Zwangsverkauf


Beim Grunderwerb wird auch nicht lange gefackelt: Die meisten Bauern weigern sich entschieden, Land herzugeben -
vergebens. Bei einer Versammlung der 34 betroffenen Geltinger und Königsdorfer Bauern werden sie gezwungen, die Verkaufsverträge zu unterschreiben, andernfalls droht Enteignung.

Adele Kutschke aus Wiesen erinnert sich Jahrzehnte später: "Für den Kiesboden haben wir kaum etwas bekommen,
Wald wurde besser bezahlt." Gerade einmal 900.000 Mark ist den Staat das riesige Gelände wert - bei Gesamtinvestitionen für die Munitionsfabriken von 183 Millionen Reichsmark.

Unverhohlen gedroht wird all jenen Wolfratshausern, Geltingern und Königsdorfern, die nicht sofort bereit sind, Grund abzutreten. "Was glauben Sie, was das für Sie bedeuten kann, wenn Sie sich weiter weigern. Hinter den Maßnahmen steht Göring mit dem Vierjahresplan ..."

Besonders arg betroffen ist der Bauer Josef Walser, der 1939 in unmittelbarer Nähe der Gleise der Isartalbahn
seinen Aussiedlerhof baut. Während der Heuernte im Juni trifft er plötzlich auf einer seiner Wiesen einen Bautrupp: "Was wollt ihr hier? Ihr könnt mir doch jetzt nicht das Gras zusammentreten." Walser bekommt eine grobe Antwort: "Da wirst du nicht mehr viel zum Reden haben. Du musst da weg."

Genauso läuft es. Wegen des schlechten Zustands der Bahngleise zwischen Weidach und Icking und des steilen Dorfener Bergs können auf dieser Strecke nur leichte Loks verkehren. Für den Transport der schweren Güter von und zu den Munitionsfabriken genügt dies aber nicht. Zudem soll auch die Großstadt München von der gefährlichen Fracht verschont werden. Sie muss großräumig umfahren werden.

Also wird die Strecke Wolfratshausen-Bichl ausgebaut, südlich Wolfratshausens, auf Walsers Grund, wird ein Rangierbahnhof mit zwei Stellwerken und drei Gleisen gebaut. Die Züge fahren von dort aus nach Bichl und auf der Reichsbahnstrecke über Tutzing in alle Richtungen.



Gelber, schwefeliger Gestank

Als die Produktion in den Munitionsfabriken auf Hochtouren läuft, verkehren täglich zwei bis drei Zugpaare in Richtung Bichl. Über größere Unfälle ist nichts bekannt. Lediglich 1943 brennt ein Waggon mit gelber Flüssigkeit, der zu heftig rangiert worden ist. Der gelbe, schwefelige Dampf deckt die ganze Gegend mit Gestank und Rauch zu.

Was aber passiert mit Josef Walser? Er steht unter dem Schutz des nationalsozialistischen Erbhofgesetzes. Ihm muss für den beschlagnahmten Hof Ersatz geschaffen werden. Bis zum 1. April 1942 räumt Walser sein Haus. Die neue Hofstelle entsteht in der Niederung zwischen Geltinger Straße und Loisach - weit weg vom Rangierbahnhof. Das Grundstück gehörte dem "Löwenbräu"-Gastwirt Schwaiger. Er bekommt dafür 40.000 Mark Entschädigung.



Organisationstalent gegen schlechte Schuhe

Mit den umfangreichen Rodungen im Wolfratshauser Forst betraut die Bauleitung den Wolfratshauser Bauleiter Georg Wildenrother. Das geschlagene Holz wird an Ort und Stelle beim Bunkerbau wieder verbraucht. Erst drei, später bis zu 80 zwangsverpflichtete Arbeiter leisten die schwere Arbeit.

Wildenrother hat allerdings Probleme: "Das Arbeitstempo war von Anfang an vom Druck von oben und durch die Kriegsverhältnisse gezeichnet. Der Forstarbeiter musste Tag für Tag an seinen Arbeitsplatz kommen, im Winter wie im Sommer."

Darunter haben vor allem die Fremdarbeiter zu leiden: "Schlechtes Schuhzeug und mangelhafte Kleidung gehörten zum normalen Erscheinungsbild der Gefangenen. Auch hier musste Organisationstalent immer wieder weiterhelfen,
auch gegen manche Behandlungsvorschrift. Im Winter, wenn arge Kälte herrschte, waren die Leute dankbar, wenn sie in einen Unterstand oder in einen noch nicht benutzten Bunker ein wenig verschnaufen und sich wärmen konnten."

Nach Abschluss der Rodungen werden von der Forst- und Bauarbeitern die Bunker getarnt. Erdwälle werden aufgeschüttet, die Dächer mit Humus abgedeckt. Sträucher und Jungpflanzen werden waggonweise herangefahren. Gepflanzt werden auf den Dächern Johannisbeeren, Fichten, Latschen, alle möglichen Laubbäume. Ziel ist es, dass alle Bauten unter einem grünen Teppich vor den scharfen Augen der Luftaufklärer verschwinden. Selbst die Straßen werden mit grüner Farbe gestrichen.


Bis zu 6000 Arbeitskräfte und schweres Gerät waren am Bau
der beiden Rüstungsfabriken im Wolfratshauser Forst beteiligt.




Kriegsfähig bis 1940

Alle Baufirmen, die im Deutschen Reich Rang und Namen haben, sind ab September 1938 im Wolfratshauser Forst tätig: Scheumann, Polensky und Zöllner, Holzmann, Riepl, AEG, Moll, Dykerhoff und Widmann Babcock, Hochtief, Siemens und und und. In nur zwei Jahren, so der Schnellplan des Wehrwirtschaftsamts beim Oberkommando der Wehrmacht, sollen die Fabriken arbeiten.

Die Eile ist Programm und von Adolf Hitler höchst persönlich angeordnet. Er erließ 1936 beim Reichsparteitag in Nürnberg einen Vierjahresplan, der zwei Ziele festschrieb: "Die deutsche Wehrmacht muss in vier Jahren einsatzfähig sein. Die deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein."

Bauleiter sind der Hamburger Ingenieur Dr. Albert Deichmann und ein Direktor Schindler, beides Angestellte der Dynamit AG (DAG). Aber auch viele andere hohe Herren reden mit - zu viele.

Der Fuhrunternehmer Siegschwert erinnert sich: "Kompetenzstreitigkeiten waren häufig zu beobachten.
Je schwerer das Schulterstück eines Höheren war, umso mehr hat das Wort gegolten. Kamen politische Baukommissionen, dann wurde meist das Gelände schon vorher abgesperrt."




Eine Million in Sand gesetzt

Und es gibt auch größere Pannen. Für ihren Energiebedarf benötigt die DAG zwei große, unterirdische Kraftwerke. Als ein Werk bereits fertig ist, wird es bei einem Gewitter fast vollständig überschwemmt. Siegschwert: "Man war überzeugt, dass das Reinigen und Säubern der bereits montierten Motoren und Anlagen einen weit größeren Aufwand erfordern würde als eine Neuherstellung. Die Baustelle wurde fast völlig mit Kies zugeschüttet."

Ein Jahr Arbeit ist umsonst, eine Million Mark buchstäblich in den Sand gesetzt. Und oft passen Pläne und Bauausführung nicht zusammen: Bis zu drei Mal werden manche Bunker jeweils an einem neuen Standort wieder gebaut.

Aber Arbeitskräfte gibt es genug. Die deutschen Bauarbeiter vermitteln die Arbeitsämter in München und Starnberg. Untergebracht sind sie in Gelting, im Gasthaus Ritt (heute: Alter Wirth) und bei den Bauern in der Umgebung. Aber immer öfter werden auch zwangsverpflichtete Fremdarbeiter eingesetzt.

Barackenlager werden gebaut auf der Böhmwiese (Lager Buchberg, 2000 Bewohner), in Stein (1000). Lager  Föhrenwald (heute Waldram) unmittelbar südlich Wolfratshausens entsteht, 2500 Menschen leben dort.


Die Arbeit für die Fremdarbeiter in den Munitionsfabriken war körperlich sehr hart und äußerst gefährlich.



Maulhalten war wichtig

Ein Dienstverpflichteter erinnert sich: "Es war Anfang Oktober 1939. Ich war als Zimmermann in München beschäftigt. Eines Tages hieß es, dass wir für einen besonderen Arbeitsplatz vorgesehen seien. Ich dachte zuerst an Polen. (...) Beim Arbeitsamt erfuhren wir dann, wohin unsere Fahrt gehen sollte, in ein Barackenlager bei  Wolfratshausen. Meine Aufgabe bestand im Einschalen von schweren, massiven Bunkern.

Bei Wind und Wetter ging es im scharfen Arbeitstempo dahin, dafür sorgten schon die vielen Aufseher und der Werkschutz, der stark vertreten war. Unterordnen und Maulhalten war wichtig. Rapport gab es für den, der aus der Reihe tanzte.

Einmal äußerte ich, dass diese Bauten doch eines Tages wieder abgerissen werden. ,Was haben Sie da für Anschauungen?` sagte ein SA-Mann aus Niederbayern. Ich war seitdem sehr vorsichtig und hielt mich mit solchen Äußerungen zurück."

Rund 6000 Arbeiter sind insgesamt am Bau der Munitionsfabriken beteiligt. Die Dienstverpflichteten stammen aus Oberbayern, dem Allgäu, dem Sudetenland, Italien, der Slowakei, Litauen und dem Memelland. Eine neue Stadt entsteht, mit einer eigenen Bahnlinie.

Die Isartal-Bahn nach Wolfratshausen wird "verreichlicht" und mit 35 Kilometer Gleisen nach Geretsried-Nord und -Süd verlängert. Baumeister Johann Haas plant die Kanalisation, die Feuermeldeanlage, die zwei Rettungswachen, die Wasserversorgung.

Notwendig ist auch eine Kanalisation. Der zuerst geplante Auslauf in die Isar wird unter anderem von den "Seplissenen" verhindert, einer mondänen Angler-Vereinigung in München, der auch Generäle angehören.

Zwar wird der Zeitplan nicht ganz eingehalten, aber im November 1940 werden erste Abteilungen in Betrieb genommen, die Nitropenta-Produktion beginnt.

Und ein knappes halbes Jahr später läuft auch das südliche Werk II der Deutschen Spreng-Chemie an. Die Bauarbeiter verschwinden nach und nach und machen den Werks-Mitarbeitern Platz. Es sind zu 95 Prozent Ausländer, Zwangsarbeiter -  Arbeitsschutz ist ein Fremdwort.



Abdruck in die Decke gebrannt

Seit November 1940 arbeitet die DAG, seit April 1941 auch das südliche Werk 2, die Deutsche Sprengchemie (DSC) im heutigen Geretsried. Bis zu 4000 Arbeitskräfte sind hier insgesamt tätig - unter unzumutbaren Bedingungen. Ihr Arbeitsplatz ist äußerst gefährlich.

Wie gefährlich, davon zeugen eine ganze Reihe von tödlichen Unfällen bei der DAG. Am 2. Juli 1941 ereignet sich eine Verpuffung in einem Kessel des Bunkers 89. Dabei sterben zwei Arbeiter, zwei weitere werden schwerverletzt.

Am 14. Januar 1943 explodiert infolge menschlichen Versagens das Trockenhaus 128 (auf dem heutigen Johannisplatz), in dem in Italien hergestelltes Hexogen (ein Sprengstoff) weiterverarbeitet wird. Sieben Menschen  sterben, 14 werden verletzt. Der Krater ist noch auf amerikanischen Luftbildern von 1945 zu erkennen.  Feuerwehrkommandant Anton Bräuhäuser: "Von dem Gebäude blieb nur das Eisengerüst stehen."

Pressen-Explosionen gibt es in den viereinhalb Jahren einige, auch im Werk der DSC. Der Sachschaden ist in der Regel hoch, und es gibt Tote zu beklagen. Hans Herbrik, damals Arbeiter: "Einmal gab es eine Explosion, da hat man den Abdruck des Mannes, der dabei umgekommen ist, noch lange oben an der Decke gesehen."

Und auch die Arbeiterin Anna Reingraber, sie stammt aus Kempten, berichtet von einem Unglück: "Das Gefährlichste waren die Tellerminen." Als es in einer Kiste zu ticken anfängt, nimmt ein russischer Arbeiter das Paket und trägt es ins Freie. Dort explodiert die Ladung, der Russe kommt ums Leben.



Sicherheitsdienst Jost

Der Sicherheitsbeauftragte der Rüstungswerke ist Wolfratshausens Bürgermeister Heinrich Jost. Er untersucht jeden Betriebsunfall daraufhin, ob Sabotage vorliegt. Fuhrunternehmer Siegschwert: "Jost war an sich nicht gewalttätig,
man hat mit ihm reden können." Aber auf das Konto des Bürgermeisters gehen allerdings viele Verhaftungen.

Dokumentiert ist ein Fall vom 30. Januar 1942, als Jost drei französische Arbeiterinnen wegen "Arbeitsverweigerung" festnehmen und der Gestapo überstellen lässt. Die 21-jährige Odile Le Friek ist völlig unschuldig, sie war an jenem Tag pflichtgemäß an ihrem Arbeitsplatz. Rene Bona (20) und Jeanne Godin (22) indes meldeten sich von 21. bis 24. Januar krank. Der Lagerarzt Dr. Hermann P. untersucht sie allerdings nicht einmal, sondern schreibt sie umgehend wieder arbeitsfähig.

Der Gendarmerie-Kreisführer Leutnant T. schreibt indes: "Da nun der Abwehrbeauftragte Jost als Grund der Festnahme Arbeitsverweigerung in seinem Schriftsatz stehen hatte und diesbezüglich schon mit der Geheimen Staatspolizei ins Benehmen getreten war, wurden die beiden von der Gendarmerie vorläufig festgenommen und am 18. Februar der Gestapo München überstellt." Nach einer Woche werden die beiden Französinnen wieder freigelassen.

Der Fall beschäftigt allerdings sogar den oberbayerischen Regierungspräsidenten. Jost bekommt eine Rüge. Er sei als "Abwehrbeauftragter eines Fabrikunternehmens" nur in "Fällen unverschieblichen Eingreifens" berechtigt, Festnahmen durchzuführen. Dies sei weiterhin Sache der Polizei. Die Gestapo schließt sich der Verwarnung an.


Die Rettungswache der Rüstungsfabriken war wegen  der gefährlichen Arbeit immer gut ausgelastet.           




"Nieder mit Hitler"

Beim leisesten Verdacht von Widerstand droht Verhaftung. Der dienstverpflichtete Hans Koblizki: "Einmal haben zwei Bauarbeiter in den frischen Beton der Baracke 202 ,Nieder mit Hitler` eingraviert. Zum Glück sollten die beiden am nächsten Tag auf die Baustelle in Waldkraiburg, was auch geschah.

So sind sie der Strafe entwischt. Dafür verdächtigte man meinen Gehilfen. Sie brachten ihn nach Dachau, ohne viel zu recherchieren. Wir haben lange kämpfen müssen, um ihn frei zu bekommen."

Aber es gibt tatsächlich Sabotagefälle: Eine Vorarbeiterin aus Penzberg verhindert im letzten Augenblick, dass eine Polin mit dem Hammer auf eine Sprengstoffkiste schlägt. Dass sie bei einer Explosion hätte sterben müssen, ist ihr in ihrem Hass auf die Deutschen egal. Die Frau wird von der Gestapo festgenommen und hingerichtet.




Die Unterwäsche zerfällt beim Waschen

"Kanarienvögel", so heißen bei den deutschen Kollegen die ausländischen Zwangsarbeiterinnen, die in den Rüstungs-Fabriken die gefährlichen Jobs leisten müssen. Von "gelben Französinnen" spricht zum Beispiel der Fuhrunternehmer Siegschwert, der am Bau der Fabriken beteiligt war.

"Die Gesichtsfarbe entstand von einem chemischen Niederschlag, der auch beim Waschen nicht wegging. Aber man gewöhnte sich bald an diese und so viele andere Erscheinungen innerhalb und außerhalb dieses Lagers, das immer mehr ein buntes Vielvölkergemisch wurde."

Gewöhnen können sich die "Kanarienvögel" an ihre Arbeit freilich nicht. Sie hantieren mit überaus gefährlichen Stoffen wie der Pikrinsäure. Die Chemikalien fressen sich trotz Schutzkleidung, Kopftüchern, Atemmasken und Handschuhen bis auf die Haut durch.

Eine Arbeiterin: "Beim Waschen ist uns oft die Unterwäsche auseinander gefallen." Immer wieder werden aber die Sanitäter gerufen, weil Arbeiterinnen bewusstlos geworden sind.

Nur die kräftigsten Mädchen und Frauen werden zu diesen Arbeiten herangezogen und das auch nur für jeweils einige Monate. Sie erhalten zur Stärkung täglich einen Liter Milch extra. Über die Gefahren werden sie nicht aufgeklärt. So ist der Fall einer Frau aus Königsdorf bekannt, die sich aus Spaß die Haare mit einer der verwendeten giftigen Chemikalien feuerrot färbt. Sie will so für Männer interessanter wirken.



Dachau ist nicht weit


Im Werk dürfen sich die Arbeiter nur begrenzt bewegen. Farbige Armbinden kennzeichnen den Bereich, in dem sie arbeiten. Die Geheimhaltung ist fast perfekt. Der gesamte Produktionsablauf ist in kleine Schritte auftgeteilt. Keiner weiß, was der andere zu machen hat. Die Folge, so eine Arbeiterin: "Viele von uns wussten gar nicht, was in der Fabrik hergestellt wurde. Wer aus der Reihe tanzt, wer auffällt, muss mit einer Verhaftung wegen Sicherheit ist alles: Der Werkschutz und ein 2,50 Meter hoher Zaun schützen das Fabrikgelände vor neugierigen Blicken und Sabotage.

Gleichwohl befinden sich die deutschen und ausländischen Zwangsarbeiter nicht in einem Konzentrations- sondern in einem Arbeitslager. In ihren Unterkunftsbaracken finden Theateraufführungen und Folkloreveranstaltungen statt. Selbst die ausländischen Kräfte haben sonntags freien Ausgang und dürfen dann bis nach München fahren.  Allerdings wird bei täglichen Appellen die Anwesenheit überprüft.

Der Einheitslohn beträgt annähernd 200 Reichsmark. Arbeitszeit sind 60 Stunden wöchentlich. Schwerstarbeiter erhalten 50 Prozent Zuschlag. Das gilt nicht für Arbeiter aus Russland. Sie bekommen nur 17 Mark und dürfen das Werk niemals verlassen. Sie bekommen auch keinen Urlaub wie ihre Kollegen aus Deutschland, West- und  Südeuropa. Die Situation von Ostarbeitern entspricht der von Sklaven.




Produktion läuft, Rohstoffe fehlen

Trotzdem erfüllen die Rüstungsfabriken ihren Auftrag: Sie produzieren Tausende von Tonnen Sprengstoff, Munition und Granaten für die deutschen Soldaten im Zweiten Weltkrieg. Sie bringen Unheil und Verderbnis über Europa und die Welt. 1943 (DAG) beziehungsweise im Frühjahr 1944 (DSC) ist die Produktionsleistung am höchsten.

Schwierigkeiten bereitet indes immer öfter die Rohstoffknappheit: Verschiedene Produkte können zeitweise nicht hergestellt werden und sei es nur, weil Papphülsen für die 7,5-Zentimeter-Sprenggranaten fehlen. Bis zum 9. April 1945 ...




Die Burschen rennen wie der Blitz

Der 9. April 1945 ist ein schöner, sonniger, ja fast wolkenloser Frühlingstag. Gegen 17.15 Uhr hören die Mitarbeiter der Munitionsfabrik der Dynamit AG (DAG) im Wolfratshauser Forst ein dumpfes Dröhnen. Es klingt wie ein Gewitter. Das Geräusch ist bekannt, von den ungezählten amerikanischen und britischen Bomberverbänden, die zu dieser Zeit Tag und Nacht ihre unheilvolle Fracht über München abwerfen.

Aber am 9. April ist es anders: Das Ziel der Bomber ist Gartenberg. Die Flugzeuge werden aus Richtung Südwesten kommend sichtbar. Sirenen heulen auf, die Mitarbeiter der DAG verlassen fluchtartig ihre Arbeitsstelle. Sie rennen um ihr Leben.

Ungefähr 4000 Brand- und 1200 Sprengbomben werden in zwei Bombenteppichen innerhalb von nur drei Minuten von 76 Flugzeugen über Gartenberg abgeworfen. "Neben dem Gebäude der Feuerwache befand sich die Lehrlingswerkstätte für 20 bis 24 Lehrlinge. (...)

Sie war nur einige hundert Meter von dem Feuerwehrgebäude entfernt. Als dann an diesem Tag der Alarm kam, sind die Burschen wie der Blitz zu uns rübergerannt. Und kaum waren sie in dem Gebäude der Feuerwehr, sind die ersten Bomben gefallen.

Sie trafen die Lehrlingswerkstätte. Sie wurde total zerstört", erinnert sich Anton Bräuhäuser, Chef der 45 Mann  starken Werksfeuerwehr. Kein Lehrling kommt ums Leben, wohl aber ein Arbeiter aus Königsdorf, der es nicht schnell genug zum Luftschutzbunker schafft.


Feuerwehr-Kommandant Anton Brauhäuser.



Sachschaden ist nur gering

Trotz der großen Menge Bomben ist der Sachschaden gering. Zerstört werden neben der Lehrlingswerkstatt nur das Wachslager und das Packmittellager. Was aber hätte passieren können? Katastrophal wären die Folgen selbst für das benachbarte Wolfratshausen gewesen, wäre auch nur einer der auf dem Fabrikgelände stehenden Eisenbahnwaggons, bis oben gefüllt mit Sprengstoff, getroffen worden. Das brennende Wachslager indes verursacht eine riesige grauschwarze Rauchwolke.

Ist das vielleicht der Grund, warum die Bomber nicht zurückkehren, wie Bräuhäuser vermutet. Wollen die Allierten nur zeigen, was passieren kann, wenn sie wollen, daß sie längst Bescheid wissen über die Munitionsfabriken?

Auch der geheime "Weekly damage report" (Wöchentlicher Zerstörungs-Bericht) der US-Luftwaffe vom 20. April gibt darüber keine Auskunft. Darin heißt es lediglich (vom Autor übersetzt): "Es scheint, daß es nur geringe Zerstörungen gegeben hat, obwohl es eine Ansammlung von vielen Kratern im nördlichen Drittel des Ziels gibt."




Stillstand schon vor dem Ende

Aber zu diesem Zeitpunkt ist ohnehin schon fast alles vorbei. Der Krieg ist längst verloren. Die Produktion im Wolfratshauser Forst kommt zum Stillstand,  nur drei Wochen später marschieren die Amerikaner ein. Sie übernehmen (und demontieren in den nächsten Jahren) zwei der größten Rüstungsfabriken des Dritten Reiches. Bei der Produktion des Sprengstoffs Nitropenta sind sie Nummer 1 und bei Zündhütchen haben sie 75 Prozent "Marktanteil".

In den ersten Wochen nach dem Einmarsch der Amerikaner plündern ehemalige Fremdarbeiter und befreite KZ-Häftlinge die Rüstungsfabriken. 1947/48, nach der Vernichtung und dem Abtransport der noch vorhandenen  Sprengstoffe, werden 240 der rund 800 Gebäude gesprengt. Anschließend ziehen die ersten Flüchtlinge dort ein.
Auf den Trümmern der Rüstungswerke entsteht nach Jahrzehnten des Aufbaus eine blühende Stadt - Geretsried.

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Hintergrund:

Die Fabrik Wolfratshausen wird vom Dritten Reich nach einem bewährten Schema gebaut und betrieben. Die Verwertungsgesellschaft für Montanindustrie, eine reichseigene GmbH kauft den Grund und verpachtet ihn an die Dynamit AG (DAG), Troisdorf, und die Deutsche Sprengchemie (DSC), eine Tochterfirma der WASAG. Die Höhe der Pacht, die die Montan verlangt, ist gewinnabhängig.

Die DAG betreibt das Werk Tal I, im heutigen Gartenberg oder Geretsried-Nord. Hergestellt wird dort ab 1940 in drei Produktionslinien (die vierte ist bei Kriegsende noch in Bau) der Sprengstoff Nitropenta. Mit einer Kapazität von 600 Monatstonnen (tatsächliche Produktion 1944: 330 Monatstonnen) ist Geretsried der bedeutendste Nitropenta-Produzent im Dritten Reich.

Hergestellt werden soll laut Planung zudem der Sprengstoff Pikrinsäure. Allerdings wird die Anlage im Krieg nicht mehr benötigt, die Bauarbeiten darum 1940 eingestellt. Produziert werden stattdessen Initialsprengstoffe für Zünder (Bleiazid, Tetrazen, Bleinitroresorzinat). Der beliebte Sprengstoff Hexogen wird bei der DAG nur getrocknet.

Das erheblich kleinere Werk Tal II, die DSC, wird in Geretsried-Süd,  jenseits der heutigen Tattenkofener Straße errichtet. Unter Anderem werden dort die von der DAG hergestellten Sprengstoffe zu Presslingen verarbeitet und in Granaten und Zündladungen gefüllt. Der Betrieb wird im Mai 1941 aufgenommen, im Endausbau - so der Plan - soll das Werk eine Leistung von 1000 Monatstonnen haben.

Insgesamt werden von den Investoren für beide Werke über 600 Bunker angelegt, teilweise zur Tarnung bis zu 20 Meter tief im  Boden. Die Anlage hat eigene Kohle-Kraftwerke, eine eigene Wasserversorgung (am Isardamm) und eigene Barackenlager (Böhmwiese, Stein und auch Waldram, wo feste Häuser gebaut werden). Die Rüstungsindustrie im Wolfratshauser Forst ist in jeder Hinsicht autark. Bis zu 4000 Menschen müssen dort arbeiten, zu 95 Prozent sind es zwangsverpflichtete Ausländer.


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